Es ist noch eine junge, aber sehr wirksame Therapieform für Patient:innen mit zentralen Bewegungsstörungen: Die Hippotherapie-K. Der Bärnerbär hat die Physiotherapeutin Liza Rosenthal auf einer Therapielektion begleitet.
Sanft und genügsam trottet das siebenjährige Fjordpferd Fred durch den Gümliger Hüenliwald. Auf seinem Rücken sitzt aufgerichtet C. G. (Name der Red. bekannt), 67-jährig. Die Patientin leidet seit ihrem 40. Lebensjahr an Multipler Sklerose. «Ganz sicher war ich mir nach verschiedenen Abklärungen erst mit etwa 50 Jahren», ergänzt die ehemalige Sängerin. In den letzten Jahren hat sich ihr Zustand schleichend und kontinuierlich verschlechtert. Ihre Neurologin hat sie auf die Hippotherapie-K aufmerksam gemacht. C. G. absolviert die Therapielektionen seit zwei Jahren, regelmässig einmal wöchentlich. «Für mich war es in zweierlei Hinsicht etwas völlig Neues. Wegen meines Berufes musste ich permanent aufpassen, mich nicht zu erkälten. So bewegte ich mich wenig in der Natur und hatte auch fast keinen Zugang zu Tieren.» Sie möchte die Lektionen auf dem Pferderücken nicht mehr missen. «Nach der Therapie laufe ich während drei bis vier Stunden fast beschwerdefrei», schwärmt sie.
Begleitet wird die MS-Patientin von der 37-jährigen Physiotherapeutin Liza Rosenthal und der Pferdeführerin Regine Neuhaus. Liza Rosenthal weicht nicht von der Seite der Patientin und stützt sie mit der Hand am Becken. C. G. führt die Gleichgewichts-Übungen mit kreisenden Armen auf dem Pferd selbstständig aus. Sturmböen fegen durch den Wald. «Nicht gerade ideale Bedingungen für das Therapiepferd», findet Liza Rosenthal. Aber Fred vertraut seiner Führerin und so bringt ihn das garstige Wetter nicht aus der Ruhe.
Island- und Fjordpferde eignen sich besonders
Welche Patienten nehmen eine Hippotherapie-K (HTK) in Anspruch? Dazu Liza Rosenthal: «Die häufigste Beeinträchtigung ist die Cerebralparese, eine Hirnschädigung, die vor, während oder nach der Geburt eintritt, beispielsweise durch Hirnblutung oder Gefässverschluss. Das führt zu Einschränkungen und Entwicklungsverzögerungen beim Kind.» Viele könnten nicht gehen, wobei die Hoffnung bestehe, dass sie dies im Laufe ihrer Entwicklung noch lernten, sagt die erfahrene Therapeutin. Genau hier sei der Ansatz der HTK, nämlich die Entwicklung und damit die Eigenständigkeit zu fördern und zu erhalten. «Die meisten erwachsenen Patient:innen, welche die HTK beanspruchen, leiden an Multipler Sklerose. Sie konnten sich vor Eintreten der Krankheitssymptome uneingeschränkt bewegen. Hier geht es nun darum, ihnen durch die HTK möglichst lange die Gehfähigkeit, das Gleichgewicht und alle Haltungsreaktionen des Rumpfes zu erhalten», erklärt Liza Rosenthal.
Zurzeit stehen sieben Island- und Fjordpferde im Stall des Hippotherapie-Zentrums Gümligen. Diese Pferde eignen sich durch ihre kleinere Körpergrösse besonders für den Therapieerfolg. «Ihr Schrittrhythmus passt besser zu den menschlichen Gangbewegungen als beim ‹normalen› Pferd. Die Bewegungen lösen beim Patienten die gangtypischen Reaktionen des Rumpfes aus», schildert Liza Rosenthal. Man wähle jeweils das für die Körpergrösse und Möglichkeiten des Patienten geeignetste Pferd. Auch bei den Island- und Fjordpferden gebe es kleinere, grössere, breitere und schlankere «Modelle», so die Pferdekennerin.
Die Therapiepferde werden in Gümligen von einer erfahrenen Trainerin ausgesucht und auf ihre künftige Aufgabe vorbereitet. Fred, der 2020 zu seinen Artgenossen im Therapiezentrum gestossen ist, zeichne sich durch seinen sanften Charakter und seinen Fleiss bei der Arbeit aus, lobt Liza Rosenthal den beigefarbenen Schönling. In der Regel bilden immer die gleiche Physiotherapeutin und dieselbe Pferdeführerin ein Therapieteam. «Es ist enorm wichtig, dass wir einander kennen und gut aufeinander abgestimmt sind, um rasch reagieren zu können. Die Sicherheit aller steht zuoberst», betont Liza Rosenthal.
Von IV und Krankenkassen anerkannt
Im Vergleich zur konventionellen Physiotherapie ist die Hippotherapie-K ein «Nischenprodukt» – und wird es wohl bleiben, denn sie richtet sich ausschliesslich an Patient:innen mit neurologischen Bewegungsstörungen. Das Hippotherapie-Zentrum Gümligen gehört zurzeit zu den grössten Anbietern in der Schweiz, bewältigt es doch wöchentlich zwischen 60 und 70 Therapielektionen. Die Kosten der HTK werden für erwachsene Patienten mit Multipler Sklerose, cerebralen Bewegungsstörungen und Trisomie von den Krankenkassen übernommen. Bei Kindern mit cerebralen Bewegungsstörungen und Trisomie finanziert die Invalidenversicherung die Behandlungen.
Liza Rosenthal absolvierte für ihre Tätigkeit im Hippotherapie-Zentrum Gümligen mehrere Zusatzausbildungen: Einerseits eignete sie sich Kenntnisse zur Entwicklung des Bewegungssystems von Kindern an und andererseits über Pathologien, welche aus einer neurologischen Schädigung entstehen. Aber nicht nur das: Die reiterische Weiterbildung durfte nicht ausgeblendet werden. Liza Rosenthal verbrachte bislang bloss als Kind etwas Zeit auf dem Rücken eines Pferdes, jedoch ohne Reitstunden. Nun reitet sie einmal pro Woche auf den Pferden des Zentrums. «Die brauchen Abwechslung und geben auch gerne mal Gas», lacht sie. Denn bei den Therapielektionen ist Galopp kein Thema.
Nach dem 30-minütigen Ausritt im Hüenliwald trifft das Therapieteam mit Patientin C. G. wieder im Hippotherapie-Zentrum am Allmendingenweg 1 c in Gümligen ein. Die MS-Patientin steigt ohne fremde Hilfe vom Pferd. Sie reicht Fred aus einem blauen Behälter, der mit seinem Namen angeschrieben ist, das ersehnte Futter, das er mit grossem Appetit verschlingt – in diesem Punkt gleichen sich wohl alle Tiere… C. G. ist glücklich: «Ich habe schlecht geschlafen, aber nun fühle ich mich wieder ‹zwäg› und wenn ich Liza und Fred sehe, ist das auch für meine Seele Balsam.»
Peter Widmer
Liza Rosenthal, geboren 1985, wuchs in Bern auf. Die gelernte Physiotherapeutin arbeitet mit einem 60-Prozent-Pensum am Inselspital Bern im Akutbereich. Ihr zweites berufliches Standbein hat sie seit 2017 im Hippotherapie-Zentrum Gümligen. Seit 2021 ist sie Mitglied der Betriebsleitung. Liza Rosenthal ist ledig und wohnt in Wabern.
Hippotherapie-K (HTK) wurde in den Jahren 1966 bis 1976 von Ursula Künzle, Physiotherapeutin an der Neurologischen Universitätsklinik Basel, für Patienten mit zentralen Bewegungsstörungen entwickelt. HTK ist seit 1995 eine anerkannte physiotherapeutische Massnahme, die vom Arzt verordnet werden muss und von diplomierten Physiotherapeut:innen mit Zusatzausbildungen in Hippotherapie-K durchgeführt wird.
Der Verein Hippotherapie-Zentrum Gümligen wurde 2008 gegründet. Der Betrieb am Allmendingenweg 1 c in Gümligen beschäftigt heute sechs bis sieben praktizierende Physiotherapeutinnen und acht bis zehn Pferdeführerinnen.
Weitere Infos:
hippotherapie-guemligen.ch