Naturerlebnis statt Fang zum Angeben: An der Aare gehen die Fischer Kurt Wyss und Peter Dietrich öfter leer aus. Dennoch ist der Angelsport für sie eine lebenslange Leidenschaft zwischen Jagdtrieb und Meditation.
Petri Heil, heute scheint das Glück der Köder an Kurt Wyss‘ Angelhaken gewesen zu sein. Denn gleich am ersten Morgen der neuen Forellensaison konnte er eine schillernde Bachforelle aus der Aare ziehen. «So ein schönes Exemplar fange ich nur selten, vielleicht einmal im Jahr», schwärmt der passionierte Fischer, der schon seit seiner Kindheit die Rute an der Aare auswirft.
Diese Erfahrung hilft ihm heute, die besten Plätze zu finden. Denn wer hier ohne Grundwissen und Gespür ans Werk geht, fängt nichts, so Wyss. «Es tönt komisch, aber ich spüre, wo der Fisch ist.» Mit geschultem Blick erkunden er und Vereinskollege Peter Dietrich das Ufer in Münsingen. «Dort bei den Wellen ist es sauerstoffreich. Das mögen bestimmte Fische», erklärt Dietrich, der dem Fischereiverein Aaretal vorsteht.
Kein Fang? Kein Problem!
In diesen Jahren ist die begehrte Forelle, der sogenannte Leitfisch der Aare, selten geworden. Umso mehr freut sich Wyss über seinen Fang, den er am Abend mit einem feinen Weisswein geniessen will. Auf dem Heimweg wird er gleich noch frischen Bärlauch für die Sauce sammeln. Auch das gehört für ihn zum Naturerlebnis Fischerei, für ihn mehr als ein Hobby. «Hier komme ich in einen ganz anderen Film. Eine Stunde fischen – und wenn es nur in der Mittagspause ist – und ich bin entspannt. Für mich wie Meditation», erzählt er.
Einem Vorurteil will Wyss gleich widersprechen: Angeln sei nicht langweilig oder unsportlich. Der Köder muss aktiv bewegt, das Gewässer im Auge behalten werden, man muss wissen, welcher Fisch gerade welche Nahrung frisst. Oft wandert Wyss zu Bergbächen und Seen. «Da muss man erst fünf Stunden marschieren, bevor man fischen darf. Das sind meine besten Tage. Es ist wirklich eine vielfältige Aktivität, die mich fasziniert.» Dass er meist ohne Fang zurückkehrt, stört ihn nicht im Geringsten. Das Gesamterlebnis bei Wind und Wetter zählt, ein Fisch ist nur das i-Tüpfli. «Ich fange vielleicht zehn im Jahr. Aber klar: Die Spannung, wenn einer beisst, ist unvergleichlich.» Ein gewisser Jagdtrieb stecke wohl in jedem Fischer. Sein grösster Aarefang war eine 90 Zentimeter grosse Seeforelle.
Hat Wyss Skrupel, Fische zu töten? Er schüttelt den Kopf. «Ich habe Ehrfurcht vor dem Tier und tue alles, um ihm kein Leid zuzufügen.» Das Wohl der Fische liegt ihm und Dietrich am Herzen. Was nicht Fangmass hat, kommt zurück in die Aare.
Wer angelt, muss einen Sachkundenachweis erbringen, ein Patent erwerben und eine Fangstatistik abliefern. «Das Fischen mit Widerhaken ist im Kanton Bern zum Glück verboten. Die verletzen die Tiere. Wenn ich andere Angler büssen muss, dann meist deswegen», erläutert Wyss, der auch als freiwilliger Fischereiaufseher arbeitet. Er kennt alle Regeln und erlaubten Techniken. Dementsprechend wenig halten er und seine Vereinskollegen von künstlichen Forellenteichen, Plauschfischen oder stolzen Fang-Fotos auf Social Media.
Der fast 100-jährige Verein engagiert sich in Gewässerunterhalt, Aufzucht und Aufklärung. Die 240 Mitglieder leisten 1600 Stunden Freiwilligenarbeit pro Jahr. «Ohne Corona wäre hier heute Party, mit Fisch und Kühlwasser, also Alkohol», lacht Präsident Dietrich, im leeren Vereinshaus «Fischerhüsli» angekommen.
Die verschwundenen Fische
Nebenan pumpt eine riesige Anlage filtriertes Wasser in Dutzende Becken. Darin wimmelt es, die kleinen Bachforellenlarven sind schon geschlüpft und etwa acht Wochen alt. Zusammen mit elf Kollegen kümmert Dietrich sich um die kostbaren Zöglinge: «Wir sind mit viel Herzblut dabei.» Der Bach vor dem Fischerhüsli dient den Minifischen später als Kinderstube, danach bringt der Verein sie in die Aare.
40000 Fische setzt er jährlich aus, um den Bestand zu u n t e r s t ü t z e n . Trotzdem kommen zwischen Thun und Bern durchschnittlich nur schon 500 Forellen pro Jahr abhanden. Warum? Wyss und Dietrich müssen mit den Schultern zucken. «Es hängt von unzähligen komplexen Faktoren ab.» Verunreinigungen, Kanalisierungen, die warmen Temperaturen, Aarebötler und Raubvögel setzen dem Bestand zu. Auf natürlichem Wege vermehren sich die Forellen kaum mehr, da Laichplätze fehlen.
Das löst aber das Rätsel der verschwundenen Fische nicht ganz. Der Verein engagiert sich und hofft auf die Forschung. Trotz geringem Fangerfolg kann er sich über Nachwuchsmangel kaum beklagen. Die angebotenen Grundkurse, auch für Frauen, sind regelmässig voll. Der Verein hat eine aktive Jugendgruppe. «Die jungen Menschen haben ein Bedürfnis. Aber damit man beim Fischen bleibt, braucht es Leidenschaft», so Wyss.
Michèle Graf