Als Yasmine Keles vor zwanzig Jahren bei den Zeugen Jehovas ausstieg, markierte das das Ende eines langen und quälenden Ablösungsprozesses. Ihre Lebensgeschichte hat die Wahlbernerin nun in einem Buch niedergeschrieben.
Manchmal ist es wichtiger, Fragen stellen zu dürfen, als Antworten zu haben. Als Yasmine Keles mit 24 Jahren der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas den Rücken kehrte, brach sie mit allem, was sie kannte. «Es war die schwierigste Entscheidung meines Lebens, aber die richtige», sagt sie heute. Keles wuchs in einer für die Zeugen verhältnismässig liberalen Familie auf, ihre Eltern erlaubten ihr, aufs Gymnasium zu gehen und Freundschaften ausserhalb der Zeugen zu haben. Durchaus ungewöhnlich für eine Glaubensgemeinschaft, die sonst unter sich bleibt.
Von der WG-Partnerin ignoriert
In ihrer Jugend begann Keles die vorgefertigten Antworten auf alles und die vorgepfadeten Lebenswege zu reflektieren. Sie fragte sich, ob Gott tatsächlich über jeden Menschen so streng und kleinlich richte. «Ich erinnere mich beispielsweise an Bilder des Weltuntergangs mit Leichen überall. Nur die Zeugen sind die Auserwählten und werden gerettet. Das fand ich grausam. Ich begriff später, als ich Orwells 1984 las, dass ich in einer totalitären Gemeinschaft lebe.» Auch die Rolle der Frau, die Ablehnung der Homosexualität, kein Sex vor der Ehe, Rauchverbot und Zensur vieler Medien trafen bei Keles auf Unverständnis. Dennoch wollte sie immer glauben, sagte sich, dass sie die fraglichen Punkte eben einfach «als Jehovas Willen» akzeptieren müsse. «Ich war lange in einem grossen Konflikt. Mein Wesen und meine Weltsicht, die ich durch meinem Charakter mitbrachte, harmonierte einfach nicht mit dem Blick dieser Gemeinschaft auf die Welt», resümiert Keles heute. Frei entscheiden, kritisch denken, Vorstellungen anderer kennenlernen – das reizte sie immer mehr. Als junge Erwachsene zog sie nach Bern, wurde Bibliothekarin und machte mit ihrer Schwester eine Weltreise. Emotional war die Loslösung aus der Gemeinschaft, die lebenslang ihr Umfeld war, trotz aller rationalen Gründe schwierig. Keles beschreibt ihre Kindheit und Jugend als behütet. «Natürlich gab es schöne Zeiten. Als Jugendliche feierten wir auch Partys oder machten als Gruppe Ferien in Frankreich. Ich hatte meine Freunde wirklich sehr gern.» Nach dem Ausstieg straften diese sie mit eisigem Schweigen und Kontaktabbruch: «Was ich getan habe, ist für sie unverzeihlich.» Die Situation hält bis heute an. Keles erinnert sich an eine zufällige Begegnung mit einer ehemaligen WG-Partnerin in einem Sportgeschäft vor einigen Monaten. «Wir waren zu WG-Zeiten gute Freundinnen. Ich hätte sie gerne freudig begrüsst. Doch als sie mich sah, senkte sie ihren Blick und lief grusslos an mir vorbei.» Als junge Aussteigerin litt Keles eine Weile unter dem Verlust dieser Freundschaften, ist froh, dass ihre Eltern und Schwester den Kontakt nie abbrachen. Mittlerweile gehören auch sie nicht mehr der Glaubensgemeinschaft an. Obwohl die Zeugen Jehovas bekannt sind, haben sie wenig Zulauf. «Die Missionierung bringt zumindest in der westlichen Welt kaum neue Mitglieder. Diese rekrutieren sich hauptsächlich aus den Familien innerhalb der Gemeinschaft. Religion ihrer Art, mit dieser Abkapselung von der Welt, ist nicht ‹in›. Der Glaube der Zeugen ist wider jeglicher Vernunft», sagt Keles und erkennt durchaus Parallelen zu aktuellen Strömungen. Die Tendenzen der Gesellschaft, Verschwörungstheorien und einfachen Weltbildern zu glauben, die in der Unsicherheit der Pandemie die Welt scheinbar schlüssig erklären, besorgt sie. «Ich spüre die Spaltung der Gesellschaft. Alles ist zu einer Glaubensfrage geworden.»
Die zweite Pubertät
Über ihre Erfahrungen bei den Zeugen hat Keles nun ein Buch geschrieben. Die Biografie «Und dann wurde ich endlich jung» ist erfolgreich, bereits drei Wochen nach Erscheinen ging die zweite Auflage in Druck. «Es ist keine Abrechnung, sondern eine differenzierte Auseinandersetzung mit meiner Kindheit und den Menschen darin. Mir ging es um alle Facetten», betont die Autorin. Für die Zeugen ist das Buch trotzdem verbotene Literatur, umso mehr positive Reaktionen bekommt Keles von anderen Aussteigern. Sie überlegt, ob sie eine Fortsetzung über ihr Leben nach dem Ausstieg schreibt. «Denn dann erlebte ich eine zweite Pubertät. Es war eine wahnsinnig intensive, schöne Lebensphase mit so viel Freiheit im Kopf. Ich war endlich im Leben, wollte nur noch vorwärts», lacht sie. In dieser Zeit lernte Keles auch ihren späteren Mann kennen, der türkische Wurzeln hat. Zwei Lebenshungrige, die ihren Horizont erweitern wollten, fanden sich und gründeten eine Familie. Das bringt neue Herausforderungen mit sich: «Als Zeugin feierte ich kein Weihnachten oder Geburtstag. Mit unseren Töchtern mussten wir da erst eigene Traditionen finden. Dann habe ich schon Momente, in denen ich begreife, was ich als Kind alles nicht hatte.» Heute gehört Keles keiner Kirche mehr an, glaubt aber an das Göttliche, das allen Dingen innewohne und verbinde. Und an das Recht, den eigenen Weg selbst bestimmt suchen und gehen zu dürfen.
Michèle Graf