Sie spielen am Mittwochabend auf der Hauptbühne – und sind somit der erste grosse Headliner des Gurtenfestivals 2019. Henning May, Leadsänger von AnnenMayKantereit, über üble Provokationen, billige Kopien und impulsive Hauptstädter.
Ihr dürftet noch sehr gute Erinnerungen an Bern haben: Euer Konzert im Februar im Dachstock der Reitschule war bis auf den letzten Platz besetzt!
Stimmt! Wir haben zwar nicht zum ersten Mal da gespielt – aber ich verbinde diesen Auftritt wirklich mit sehr positiven Gefühlen. Sowieso ist der Dachstock ein Schuppen, der einen besonderen Charakter hat.
Einen sehr alternativen, ja. Ist das generell euer Lifestyle?
Lifestyle würde ich nicht sagen. Es hat mehr mit Einstellung zu tun. Jeder, der im Dachstock arbeitet, ist wie wir der Meinung, dass Homophobie und Rassismus in der Gesellschaft keinen Platz haben. Weil der Dachstock bei diesem Thema ein sehr offenes Mindsetting an den Tag legt, können wir als Band dort so sein, wie wir gerne möchten.
Nimmt die Toleranz innerhalb der Gesellschaft, nicht zuletzt in Deutschland, generell ab?
Es ist unübersehbar, dass sich die Stimmung verändert hat – und zwar quer durch die ganze Gesellschaft hindurch. Wir haben uns im Juli 2018 auf Facebook in Rettungswesten gezeigt mit dem Aufruf: «Spende Menschlichkeit!» Wissen Sie, was da abging? Jemand schrieb: «Linker Müll wie ihr gehört entsorgt!» Nur, weil wir schon ein bisschen länger mit dabei sind, können wir einigermassen über solchen Dingen stehen.
Sie sind eine politische Person?
Das war ich, das waren wir als Band schon immer irgendwie. Gerade momentan befinden wir uns in einer Phase, in der sich alle überlegen sollten, ob wir nicht mehr machen können. Was das mit dem Dachstock zu tun hat: Er stand immer wieder unter Druck, es gab Diskussionen, ob man dem Ganzen nicht ein Ende setzen will. Er ist einer der Läden, für die man sich konstant engagieren muss.
Der Dachstock ist nicht riesig, am Gurtenfestival treten sie hingegen vor rund 20 000 Personen auf.
Ja, zum ersten Mal!
Wie ändern Sie den Set-Ablauf an einem Open-Air im Vergleich zu anderen Konzerten?
Auf unserer Tour kommen die Leute extra wegen uns. Und wenn wir da mal zehn oder fünfzehn Minuten länger auf der Bühne stehen, spielt das keine so grosse Rolle. Wir können die Reihenfolge unserer Songs auch mal ändern. An Festivals ist es hingegen so, dass die Menschen dort vielleicht nicht unbedingt auf uns gewartet haben. Deshalb stellen wir uns und ein Lied schon mal vor, was wir sonst eher nicht tun. Und wir haben nur rund eine Stunde Zeit für unsere Show – da wäre es anderen Künstlern gegenüber respektlos, Zeit zu überziehen.
Welchen Ihrer eigenen Tracks mögen Sie eigentlich am liebsten?
Grundsätzlich performen wir alle Lieder gerne – mit Ausreissern nach oben und unten. Von «Ich geh heut nicht mehr tanzen» würde ich sagen, dass das ein spezieller Song ist, weil wir da die Energie so lieben und die Leute alles geben, alles reinwerfen. Deswegen spielen wir ihn sicher auch am Gurtenfestival.
«Geärgert hat mich, dass diese Leute probiert haben, uns zu bescheissen.»
Ich kann Ihnen versichern: Es sind definitiv einige da, die eure Lieder wie etwa «Pocahontas» oder «Barfuss am Klavier» mitsingen werden.
Das glaube ich ebenfalls. Andere hingegen wissen vielleicht gar nichts von uns (lacht).
Sie wissen wohl, dass von «Pocahontas» eine Ballermann-Version existiert. Stört Sie das oder ehrt es Sie eher?
Stören nicht grundsätzlich. Geärgert hat mich jedoch, dass diese Leute probiert haben, uns zu bescheissen: Sie haben Merchandise-Artikel wie etwa T-Shirts mit «Es tut mir leid, Pocahontas!» verkauft und damit Geld verdient, das eigentlich uns zusteht. Das erachte ich als sehr respektlos. Würde ich mit denen noch zur Schule gehen, würde ich mit ihnen definitiv mal in eine Ecke …
Oha.
Im Ernst: Wenn richtige Musiker, zum Beispiel eine Blaskapelle, aus dem Song einen Oktoberfestmarsch daraus inszeniert, dann fühle ich mich geschmeichelt. Dann kriegen wir auch den Erlös, der uns zusteht.
Apropos Respekt: Der Kulturjournalist einer Berner Zeitung hat kürzlich über AnnenMayKantereit geschrieben: «Gott sei Dank ist da ein Sänger, der mit seiner Überwältigungsstimme und seinem leicht schwerblütigen Wesen die Sache gerade noch zum Guten wendet.»
Ich möchte nicht undankbar wirken, aber: Das berührt mich wirklich nicht so sehr. In solchen Fällen probiere ich immer, mich herauszuwinden und möglichst wenig darüber zu sagen (schmunzelt).
Verstehen Sie eigentlich Berndeutsch?
Also, Schweizerdeutsch klingt für mich schon komisch (lacht). Wobei ich finde, dass die Menschen in Bern das schönere Schweizerdeutsch sprechen – und ich kann sowieso nur Bern- und Zürichdeutsch auseinanderhalten.
Wie unterscheidet sich das Berner Publikum von anderen?
Ich glaube tatsächlich, dass es lauter und wilder ist als andere – gerade wenn ich an unseren Auftritt im Dachstock zurückdenke. Tendenziell lassen die Bernerinnen und Berner aber schon alles etwas intensiver zu.
Viele Menschen, die ans Gurtenfestival kommen, kühlen sich bei gutem Wetter vorher in der Aare ab. Waren Sie da schon mal schwimmen?
Schon mehrfach, natürlich. Wenn du hier ein paar Tage verbringst, kommst du da ja gar nicht drum rum. Abgesehen davon, dass ich kleine Städte wie Bern wahnsinnig mag. Und Bern ist echt wahnsinnig klein.
Im Vergleich zu Ihrer Heimatstadt Köln sicherlich, ja. Wann ist ein Konzert eigentlich ein gutes Konzert?
Fehler passieren, schiefgehen kann immer etwas. Es muss allerdings ein positiver Grundtenor vorhanden sein. Sagen wir es so: Wenn wir nach dem Auftritt nicht alles kleinlichst analysieren und schlechtreden, sondern einfach dasitzen, eine rauchen und etwas trinken – dann wars gut.
Yves Schott