Studiert hat sie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, aber nie praktiziert. Mit der Kopflastigkeit wurde sie nicht glücklich. Sie verschrieb sich der arabischen Kultur mit Tanz, Gesang und Unterricht. In Bern betreibt Brigitte Schildknecht das Kulturzentrum MorgenAbendLand.
Das MorgenAbendLand im ersten Stock an der Könizstrasse 19 a entpuppt sich als grosses, helles und gemütliches Tanzstudio. Verschiedene Gegenstände aus «Tausendundeiner Nacht» verraten schon mal die Vorlieben und die Leidenschaft der Inhaberin. Dem Besucher begegnet eine natürliche, jugendlich, beweglich und sportlich wirkende Frau. Ist es die Passion für den orientalischen und beduinischen Tanz, welche die 72-Jährige so vital erscheinen lässt? «Ja, ein Leben ohne Tanz kann ich mir nicht vorstellen. Ich werde kribbelig, wenn ich einmal einen Tag lang nicht tanzen kann», antwortet sie spontan. Der Tanz wurde ihr aber keineswegs in die Wiege gelegt, im Gegenteil: Die Ausübung dazu blieb ihr in der Kindheit verwehrt.
In Lützelflüh und Venedig
Den «Kick» zur arabischen Kultur erhielt sie in den 1970er-Jahren von Jolanda Rodio, der Sängerin und Theaterpädagogin, welche damals die Kulturmühle Lützelflüh und die Schule «Totales Theater» leitete, wo Brigitte Schildknecht ihre Schauspielausbildung absolvierte. Beide – Jolanda Rodio und Brigitte Schildknecht – waren der aussereuropäischen Musik stark zugewandt. Von ihr erhielt die junge Brigitte die Ausschreibung zu einem Kurs für arabische Musik in Venedig. Sie fuhr hin und absolvierte das Seminar, ihr Interesse steigerte sich zunehmend zur Leidenschaft. Ein Professor des Konservatoriums Tunis ermunterte sie, in Tunesien arabische Musik und beduinischen Tanz zu studieren. Die junge Frau war hin- und hergerissen. Es war wiederum Jolanda Rodio, die sie zum Handeln aufforderte. «Innert drei Wochen brach ich die Zelte in der Schweiz ab und reiste nach Tunis – in ein Land, in dem ich weder die Kultur kannte noch die Sprache beherrschte!», erinnert sich Brigitte Schildknecht. Aus dem geplanten neunmonatigen Studienaufenthalt wurden dann zwei Jahre.
Bevor sich Brigitte Schildknecht den tunesischen Dialekt aneignete und sich kaum verständigen konnte, galt sie bei den Menschen einfach als «schräger Vogel», wie sie heute lachend erzählt. Sie musste sich von den tunesischen Frauen auch sagen lassen, dass sie etwas mehr auf ihr Äusseres achten sollte. «Ich lief mit Trainingshose und Sweatshirt herum. Die Frauen in Tunesien kleiden sich aber gerne elegant. Sie sehen – ich wusste wenig von der dortigen Kultur!» Das änderte sich aber im Laufe der Zeit: Brigitte nahm an ihrem Leben teil, arbeitete mit ihnen und wurde nicht bloss akzeptiert, sondern zunehmend auch integriert.
Kultur gesamtheitlich erleben
Was fasziniert Brigitte Schildknecht denn derart an der arabischen Musik? «Ich habe schon früher italienische und spanische Lieder gesungen. Darin sind häufig orientalische Elemente enthalten, die bei uns unbekannt sind. Während meines Studienaufenthalts in Tunesien ging mir das unter die Haut», blickt sie zurück. Sie begann, arabische Laute zu spielen (arabische Oud = Holz), ein Spiel, das sie auch heute noch ausübt und perfektioniert hat. Beim tunesischen National-Ensemble erlernte sie den arabischen Tanz. «Ich erhielt mit der Kombination von Tanz, Gesang und Lauten-Spiel ein Gesamtgefühl für diese Kultur», begeistert sie sich. Seit ihrem Stipendienaufenthalt in Kairo 1995 besucht sie Ägypten regelmässig. «Diese Besuche sind für meine Arbeit sehr wichtig. Durch meine Begegnungen und die Zusammenarbeit mit verschiedenen ägyptischen Musikgruppen entspringen viele kreative Impulse.»
Brigitte Schildknecht studierte am Konsi Bern auch klassischen Gesang. «Als ich ab 1980 in Lützelflüh die Theaterausbildung absolvierte, hegte ich eine Zeitlang den Wunsch nach einer professionellen Gesangskarriere», gesteht sie. Mit 25 Jahren sei der Zug jedoch abgefahren gewesen. Aber sie bereut es heute nicht mehr. «Meine Mentorin Jolanda Rodio vermittelte mir eine andere Art, mit der Stimme umzugehen. Die orientalische Musik berührt mich nach wie vor mehr.» Sogar ihrem (kopflastigen) Studium kann sie heute gewisse Sympathien abgewinnen…
Männer, auf zum Tanz!
Das Unterrichten sei heute ihre Kerntätigkeit und zugleich ihre grosse Leidenschaft im MorgenAbendLand, sagt Brigitte Schildknecht. «Das Theater war der Weg, die einzelnen Elemente der arabischen Kultur miteinander zu verbinden», erläutert sie. Als sie Ende der 1980er-Jahre begann, in Bern eine eigene Schule für arabischen Tanz zu gründen, kam ihr eine Modeströmung entgegen: «Der orientalische Tanz, bei uns besser bekannt als Bauchtanz, wurde in Europa populär.» Die bauchfreien Glitzerkostüme seien allerdings in der arabischen Welt nicht Tradition. Getanzt wurde ursprünglich in geschlossenen Kleidern, bloss mit einem Schlitz für die Beinfreiheit, sagt die Kennerin. «Alles andere ist von Hollywood inspiriert!», so Brigitte Schildknecht.
Hat sie nicht Bedenken, mit zunehmendem Alter dem Tanz und Gesang nicht mehr frönen zu können? Sie lacht: «Es ist eigenartig, aber ich habe den Eindruck, immer weicher und beweglicher zu werden. Ich führe das unter anderem auf meine Beharrlichkeit und meinen Kampfgeist zurück. Den Spagat muss ich ja nicht mehr hinlegen…». Sie glaubt auch, dass wir in Bezug auf die Möglichkeiten der menschlichen Stimme falsche Vorstellungen hätten. «Ich bin einer über 80-jährigen indischen Sängerin begegnet mit einer glasklaren Stimme. Wenn man mit der Stimme regelmässig richtig übt, bleibt sie lange erhalten», widerlegt Brigitte Schildknecht die gängigen Klischees.
Die Tanzkurse im MorgenAbendLand werden zurzeit ausschliesslich von Frauen belegt. «In den arabischen Ländern habe ich so viele fantastisch tanzende Männer gesehen. Das sollte doch hierzulande auch möglich sein, Männer wären genauso dazu in der Lage», ist Brigitte Schildknecht überzeugt. Also: Männer, auf zum Tanz ins MorgenAbendLand in Bern!
Peter Widmer
PERSÖNLICH
Brigitte Schildknecht wurde 1950 geboren und wuchs in Gossau SG auf. Nach dem abgeschlossenen Studium in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften absolvierte sie u. a. eine Theaterausbildung bei Jolanda Rodio an der Schule für totales Theater in Lützelflüh, einen zweijährigen Studienaufenthalt am Konservatorium für Musik und Tanz in Tunis sowie später einen Stipendienaufenthalt in Kairo. An der Uni Bern erwarb sie den Master in TanzKultur. Von 1985 bis 1989 war sie künstlerische Leiterin der Kulturmühle Lützelflüh. Ab 1989 gründete sie die Schule für arabischen Tanz, Stimme, Bewegung und Rhythmus in Bern und 2005 eröffnete sie das Zentrum «MorgenAbendLand». Brigitte Schildknecht ist verwitwet und lebt in Bern.