Die grosse Kunst, Kunst mit den Augen des Künstlers zu sehen

Wacher Geist: Nathalie Bäschlin

Nathalie Bäschlin wusste früh, dass sie Restauratorin werden wollte. Die Leidenschaft für den Beruf packte sie während des Gymers anlässlich eines Praktikums. Die Wahlbernerin erlebt zurzeit mit dem Gurlitt-Erbe und den entsprechenden Ausstellungen im Kunstmuseum Bern eine besonders spannende Zeit. 

Der Besucherandrang im Kunstmuseum ist gross. Die Menschenschlange reicht bis zur Hodlerstrasse, wo ein eisiger Wind weht. Die laufende Ausstellung «Entartete Kunst – beschlagnahmt und verkauft» ist eine erste öffentliche Präsentation zum Erbe Gurlitt. Sie endet am 4. März. Ab Mitte April zeigt das Kunstmuseum unter dem Titel «Bestandsaufnahme Gurlitt» weitere Exponate, die sich mit dem diffizilen Nachlass von Hildebrand Gurlitt befasst. Nathalie Bäschlin, die seit 2000 am Kunstmuseum Bern tätig ist, war als Leiterin Restauration für Gemälde, Skulpturen und zeitgenössische Kunst von Anfang an involviert ins Geschehen. Der «Fall Gurlitt» sorgte weltweit für Schlagzeilen. «Meine anfängliche Ambivalenz wich wachsendem Interesse für das spektakuläre Erbe, das dem Kunstmuseum hinterlassen wurde», blickt sie zurück und erklärt, «zum einen müssen wir in unserem Beruf lernen, zu abstrahieren zwischen der Biografie eines Künstlers oder Sammlers und der Kunst, mit der wir zu tun haben. Zum anderen ist die Materie bei Gurlitt schon sehr aussergewöhnlich.» Für Nathalie Bäschlin ist die Aufarbeitung zum Thema in Bern positiv verlaufen, wenn sie sagt: «Es wurden keine Entscheidungen überstürzt und wir hatten genug Zeit und keinen Druck, diese Herausforderung anzunehmen.»

Ungebrochene Faszination
Das Kunstmuseum zeigt an die 160 Werke, von denen die meisten während der NS-Diktatur als «Entartete Kunst» in deutschen Sammlungen beschlagnahmt wurden. Es sind vorwiegend Arbeiten auf Papier, darunter Werke aus der Zeit des Expressionismus, Konstruktivismus und Verismus. Es handelt sich um Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner, Franz Marc oder Otto Dix. Nathalie Bäschlin demonstriert vor einem Porträt von Otto Müller, das seine Gattin Maschka zeigt, wie sie als Restauratorin arbeitet. Ausgerüstet mit einem Lupenkonstrukt und einer hell strahlenden Taschenlampe eruiert sie auf dem 1925 entstandenen Bild, ob es zu Schäden gekommen ist. «Die Objekte waren in einem erstaunlich guten Zustand», sagt sie mit ruhiger Stimme», «und das obschon die meisten davon unsachgemäss gelagert waren.» Wir stehen vor einem Grafikschrank des Sammlers Gurlitt. Die Truhe mit den Schubladen wurde in der Blech- und Metallwarenfabrik von Otto Kind hergestellt und war für Hildebrand Gurlitt der einzige sichere Hort, einen Teil der grossen Sammlung vor dem Verfall zu sichern. Restauratoren wissen, wie wichtig die Lagerung von Kunst ist. Nathalie Bäschlin: «Wir müssen alle Faktoren miteinbeziehen und zu denen gehören Lichteinflüsse, die ideale Temperatur oder die Luftfeuchtigkeit.» Wenn Nathalie Bäschlin von ihrer breit gefächerten Tätigkeit spricht, spürt man, dass die Faszination in all den Jahren lebendig geblieben ist. «Unser Aufgabenfeld erstreckt sich von der Geschichts- über die Materialkunde über die Fragen zur Provenienz bis hin zur Wiederherstellung», weiss die Expertin. «Wir müssen die Arbeiten des Künstlers verstehen und das Konzept dahinter ergründen.» Es gehe nicht darum, beschädigte Kunst wiederherzustellen, die den Zeitgeist einer vergangenen Ära reflektiert, sondern vielmehr das Werk mit den Augen des jeweiligen Künstlers sichtbar zu machen. «Ein wichtiger Aspekt ist die Reversibilität», ergänzt Bäschlin und fährt fort, «unser Einfluss muss stets rückgängig gemacht werden können, ausser der Schutz des Objekts geht vor.»

«Restaurierung hat sehr viel mit Intimität zu tun»

Kein Raum für Hypothesen
Nathalie Bäschlin, die im Sommer 2017 gemeinsam mit einem hochspezialisierten Team für die Werkstatt Gurlitt verantwortlich zeichnete, doziert an der Kunsthochschule Bern. Studenten, die sich für die fünfjährige Ausbildung zur Restauratorin oder zum Restaurator interessieren, rät sie: «Die Begeisterung für Geschichte und Naturwissenschaften muss ausgeprägt sein. Das Interesse am Umgang mit Farben, aber auch das Erforschen und Verstehen von Zusammenhängen sind ebenso wichtige Ingredienzien. Manuelle Geschicklichkeit, die weniger mit einem Talent für Malen und Zeichnen einhergeht, runden das Berufsbild ab.» Wer sich zu Hypothesen hinreissen lasse, sei am falschen Platz, präzisiert Bäschlin. Die Kunstrestauratorin lebt mit ihrer Familie in Bern. Einen Ausgleich zur Arbeit, die ein hohes Mass an Präzision erfordert, findet Nathalie Bäschlin beim Tanzen und in der Natur. Nach einer kurzen Verschnaufpause zwischen den beiden Gurlitt-Ausstellungen ist sie wieder voll gefordert. Danach befragt, welches bis anhin ihre spannendsten Stationen waren, antwortet Bäschlin ohne zu zögern: «Gurlitt gehört bestimmt dazu. Wir alle durften lernen, die Geschichte des 20.Jahrhunderts besser zu verstehen. Ich erinnere mich aber auch gerne an die Zeit als junge Frau, in der ich in der Kathedrale von Florenz auf einem Gerüst stand und mit der Renaissance dieses Landes auf Tuchfühlung ging.» Für Nathalie Bäschlin ist klar: «Restaurierung hat sehr viel mit Intimität zu tun und mit der Kunst, die erlernten Fertigkeiten in den Dienst vorhandener Kunst zu stellen.»

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