Adrian Willi 7 Min

Die guten, alten Zeiten, als noch die Polizei vorbeikam

Stillstand statt Rundgänge. Derzeit muss Schauspieler und Stadtführer Adrian Willi zuhause bleiben. Enmutigt ist der 40-Jährige nicht – doch er vermisst vieles. Auch manch skurrile Situation.

Mal ist er Geheimagent, mal eine Mani-Matter-Liedfigur oder der Frauenheld Casanova. Schauspieler Adrian Willi schlüpft bei den Führungen des Vereins StattLand in die unterschiedlichsten Rollen. Dann erzählt er in der Badgasse Teilnehmenden von Casanovas Eroberungen, stilecht historisch gewandet und mit vollem Eifer. Bei acht unterschiedlichen Führungen ist der studierte Theaterpädagoge engagiert. Etwa 400-mal pro Jahr, so schätzt Willi, sind Besucherinnen und Besucher sowie Firmengruppen mit StattLand unterwegs.
Normalerweise. Denn derzeit liegen coronabedingt alle Events auf Eis. Nachdem im Sommer 2020 noch einige Führungen mit Schutzmassnahmen stattfinden konnten, läuft seit Herbst nichts mehr. So muss Willi heute alleine durch seine geliebten Berner Altstadtgassen laufen. Jede Menge Geschichtliches und Anekdoten liegen ihm dabei auf der Zunge. «Sehen Sie die Kirchenfeldbrücke? Sie ist durch Eiffel inspiriert und war damals sehr umstritten. Die Berner mochten dieses Ding aus Stahl mit Gefälle, das auch noch schwingt, gar nicht», erläutert er, während er von der Münsterplattform aus in die Herrengasse schlendert.

«Man merkt, was wichtig ist»
In den letzten zwölf Jahren hat er in den Lauben unzählige Male sein Kostüm gewechselt, um für die Führungsgäste bis zu fünfmal pro Rundgang plötzlich aufzutauchen. Begegnungen mit der Polizei inklusive. Da die Schauspielenden des Vereins ihre Kostüme aus einem mitgebrachten Koffer nehmen, erregte das scheinbar herrenlose Gepäckstück als potenzielle Bombe schon so manches Mal den Argwohn von Streifenpolizisten. «Aber abgeführt wurde noch keiner von uns», schmunzelt Willi. Mithilfe eines Vereinsausweis konnten die Situationen zum Glück immer geklärt werden.
«Nun verstauben die Kostüme in meiner Waschküche», sagt Willi mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Die endgültige Zwangspause trifft ihn hart, ist er sonst ebenfalls fürs Coaching neuer Schauspieler und die Vermittlung an Schulen im Verein zuständig. «Aber ich sehe die Krise auch als Chance», sagt Adrian Willi. «Man merkt, was wirklich wichtig ist und was nicht. Mir fehlt es kaum, in Restaurants und Bars zu sitzen, aber sehr wohl der Kontakt zum Publikum.

Bewusst kein Digital-Unterricht
Der ist auch durch Onlinepräsenz nicht zu ersetzen. Neben seiner Arbeit für den Verein unterrichtet Willi Schauspiel an der Studio Bühne Bern und ist im Puppentheater engagiert. Bewusst hat er sich dagegen entschieden, im Internet Schauspielkurse anzubieten. «Beim Homeschooling verbrachten die Kinder und Jugendlichen, die ich unterrichte, schon viel Zeit vorm Computer. Da wollten sie nicht auch noch das Hobby digital ausüben», berichtet er.
Anfangs herrschte eine grosse Verunsicherung, viele beendeten ihren Schauspielunterricht. Aufgrund der strengen Massnahmen kann Willi derzeit nur noch einen Kurs pro Woche für Jugendliche geben. Das Puppentheater darf lediglich proben. Bei StattLand ist er in Kurzarbeit. «Der Verein schaut gut zu uns. Dafür bin ich sehr dankbar», sagt der Kulturschaffende, der sich so wenigstens weniger finanzielle Sorgen machen muss.
Nur eines fürchtet Willi derzeit: «Wir gewöhnen uns alle daran, auf Kultur zu verzichten. Ich hoffe, dass die Menschen nicht vergessen, dass es StattLand gibt.» Entmutigt ist er indes nicht. Schon lange bestand die Idee, einen Teil der Führungen zu digitalisieren. Anfang Februar wird der Verein so einen Audio-Rundgang zu 50 Jahren Frauenstimmrecht über eine App anbieten. Die eingesprochenen Texte hören die Teilnehmenden dann über Kopfhörer, ein Plan zeigt Standorte an. «Solche Projekte haben Zukunft, auch um ein jüngeres Publikum anzusprechen, das einfach ohne bestimmten Termin und Treffpunkt loslegen will», sagt Willi, während er an einem Brunnen in der Kramgasse angelangt ist.
Dennoch: Selbstgeführte Rundgänge können den Zauber eines Live-Schauspiels nicht ersetzen. «Bei StattLand geht es ja ums Geführt werden. Einen bestimmten Blickwinkel einzunehmen, eine ganz spezielle Hausecke zu sehen. Das ist ohne Rundgangleitung schwierig.» So sehnt er den Tagen in Kostüm und mit begeisterten Gruppen schon wieder entgegen. Sein Lieblingsrundgang ist derzeit «Bern kulinarisch». Mal wieder ein Apéro bei Vollmond auf dem Münsterturm, das wäre traumhaft.

Nachhaltige Aha-Erlebnisse
Gibt es etwas, das Willi über Bern nicht weiss? «Ja, klar!», lacht er. «Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel ich dabei lerne. Zum Beispiel wusste ich nicht, dass in der Matte früher etliche Waren per Floss von Thun angeliefert wurden. Und da hier in der Stadt kaum Holz existierte, verkaufte man die Flösse als Brennholz gleich mit.» Solche Aha-Erlebnisse begeistern Willi nachhaltig. So ist es nicht verwunderlich, dass der Verein buchstäblich sein ganzes Leben verändert hat. «Erst durch die Erfahrungen hier bin ich auf die Idee gekommen, Theaterpädagogik zu studieren.» Festen Schrittes durchquert er die Gasse unter dem Zytgloggenturm. Da der Verein sein 30-jähriges Jubiläum noch feiern möchte, ist ein Stadtrundgang-Festival geplant. «Ob es 2021 stattfinden kann, steht noch in den Sternen.» Doch Adrian Willi gibt die Hoffnung nicht auf.

Michèle Graf

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