Sängerin und Coach Stephanie Wenger hilft Menschen Lebenskrisen und Depressionen zu überwinden. Und sie macht sich für eine Gesellschaft stark, in der psychische Erkrankungen kein Tabu mehr sind.
Gelöst geniesst Stephanie Wenger das Sommerwetter auf ihrem Balkon, streichelt ihrer Katze über den Kopf: «Es geht mir richtig gut, schon die ganze Woche. Ich erfreue mich an jedem einzelnen Tag», sagt sie. Für Wenger ist dieser Satz keine kurze Erwiderung auf das übliche «Wie geht’s?». Besser als die meisten Menschen weiss sie, dass alles nur eine Tagesform ist. Die Songwriterin beschreibt ihre Gefühlswelt als ein Auf und Ab. Vor 15 Jahren bekam sie die Diagnose Borderline Persönlichkeitsstörung. «Ich bin sensibel. Menschen mit meiner Erkrankung empfinden alles neunmal so intensiv. Ich kann also wahnsinnig traurig oder ängstlich sein, aber spüre auch Freude umso intensiver.» Durch Therapien, Traumataverarbeitung, Gespräche, Medikamente, Musik und einen spirituellen Weg hat es Wenger nach einer schwierigen Jugend geschafft, gut mit ihrer Erkrankung zu leben. «Heute würde mir die Diagnose wahrscheinlich so nicht mehr gestellt werden, da ich nicht mehr so impulsiv bin und um Welten bessere zwischenmenschliche Fertigkeiten habe.»
In der Musik und im Texten fand sie ein Ventil. Mit ihren ehrlichen Gitarrensounds ist sie seit 2016 unterwegs. Viele fühlen sich von ihren Zeilen über den Weg aus dunklen Gedanken verstanden, teilen mit ihr diese Reaktionen. «Ein paar Menschen haben mir sogar geschrieben, dass mein Lied «Du hesch d Wahl» sie vorm Suizid bewahrt hat. Ich kann es fast nicht glauben, dass meine Lieder so etwas bewirken», erzählt die Sängerin mit grossen Augen. Ideen zu Songs kommen ihr oft spontan, dann greift sie sofort zu Stift und Gitarre. «Ich schreibe einfach aus mir heraus, tauche dabei ab. Jedes Lied ist ein Gedankenverarbeitungschaos», erzählt sie. «Anfangs habe ich für mich gesungen, um meine Probleme zu verarbeiten. Heute schreibe ich Lieder im Auftrag für andere.» Wenger hat die Gabe, die Emotionen der Menschen und ihre Lebensumbrüche in Songs zu verarbeiten. Im Rahmen des Projekts «Musig für Di» schreibt sie sogenannte Kraftlieder, die Menschen an Dinge erinnern, mit deren Hilfe sie eine Krise überwunden haben.
Reden hilft
Daneben ist Wenger seit Anfang des Jahres als Begleiterin unterwegs. Dabei leiht sie ihr Ohr, gibt aber auch Tipps aus ihren eigenen Therapieerfahrungen und Weiterbildungen. «Es kommen viele Teenagerinnen und junge Frauen. Sie können sich bei mir manchmal mehr öffnen als in Therapie.» Als Betroffene kann Wenger nachvollziehen, wie sie sich fühlen. «Ich musste jahrelang lernen, wie ich üble Gedanken aussprechen kann. So komisch sie auch sind.» Peerarbeit nennt sich dieser Ansatz, bei dem sie als Expertin aus Erfahrung auch Menschen begleitet, die gerade auf einen Therapieplatz warten oder in einer akuten Krise stecken. Ihre Vision: Die Leidenszeit der Betroffenen verkürzen. «Aber eine Therapeutin bin ich nicht», stellt sie klar. «Ich sehe mich eher als Ergänzung der Angebote. Ein Zusammenspiel vieler Fachpersonen ist wichtig, das habe ich selbst erlebt.» In den Gesprächen übt Wenger auch Fähigkeiten wie Stresstoleranz, Umgang mit Gefühlen oder zwischenmenschliche Fähigkeiten mit dem Gegenüber ein.
Eine erfahrene Person, der sie hätte alles anvertrauen können, hatte sie in ihrer eigenen Jugend nicht. Der seelische Druck wuchs und wuchs. Wenger begann sich selbst zu verletzen, hatte eine kurze intensive Drogenphase, unternahm drei Suizidversuche. «Aber der Wunsch nach Leben war immer da, ich hatte nur das Gefühl, ich kann es nicht aushalten.» Sie brachte schliesslich den Mut auf, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Wenger schloss eine Ausbildung als Kauffrau ab, war im Job erfolgreich. Je nach vorgesetzter Person haderte sie immer mit sich, ob und wie viel sie über ihre Erkrankung erzählen sollte. Einerseits möchte man sich erklären, andererseits nicht als leistungsunfähig gelten. «Ich scheute mich zu sagen, dass ich jede Woche zum Psychologen ging. So lebte ich in zwei Welten.»
Jahrelang fiel es der Sängerin auch schwer, stabile Beziehungen zu führen. «Weil ich kein Selbstwertgefühl hatte. Ich war sehr eifersüchtig, klammerte, hatte Verlustängste, dann lief ich wieder davon.» Heute ist sie glücklich liiert, kann offen mit ihrem Partner reden, wenn es ihr nicht gut geht. Auch eine andere Betroffene steht ihr als offenes Ohr zur Seite. «So verstanden zu werden, ist für mich sehr heilsam.»
Kraft der positiven Gedanken
Um ihr Gefühlsleben besser zu verstehen und Dankbarkeit zu üben, schreibt die Sängerin täglich ihre Gedanken, Ziele und Leitsätze auf. «Heute war es beispielsweise: Ich bin verbunden.» Sie zieht viel Kraft aus positivem Denken. Dahinter steckt geistige Arbeit: «Ich musste negative Glaubenssätze, wie dass ich nichts wert oder nicht normal bin, erst lernen loszulassen.» Sie ersetzt diese durch ermutigende Gedanken, wie «Ich bin einzigartig wundervoll», die sie immer wieder aufsagt. «Ich nenne das ‹Hirni trainiere›», lacht sie.
Aus ihren Notizen ist letztes Jahr das Buch «Mittelweg» mit ihrer Lebensgeschichte entstanden. Vor der Veröffentlichung hatte Wenger auch Respekt. Was würden Freunde, Familie und Kolleginnen sagen? «Aber die Reaktionen waren fast durchweg positiv», erinnert sie sich an die Buchtaufe. «Einige konnte sich dadurch selbst öffnen, erzählten von sich und Angehörigen. Das freute mich sehr.» Wenger macht sich für einen offeneren Umgang der Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen stark. Denn das Verschweigen und die Scham verlängert und verstärkt den Leidensweg der Betroffenen nur. «Wenn wir offener wären, hätten Betroffene nicht so grosse Ängste zum Beispiel ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn sie in eine Klinik gehen. Wer sich früher helfen lassen kann, ist schneller wieder zurück.» Heute kann Wenger sich und ihre Erkrankung annehmen. Aus ihrem Schmerz ist Sinn entstanden, der Sinn anderen Menschen zu helfen.
Michèle Graf
PERSÖNLICH
Stephanie Wenger (35), liiert, ist in Hinterkappelen aufgewachsen und wohnt in Schliern. Die Songwriterin, Sängerin, Autorin und Aktivistin für mentale Gesundheit ist gelernte Kauffrau. Heute arbeitet sie selbstständig als Begleiterin für Menschen in Krisen. Sie hat zwei Katzen.
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