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Die Schicksale anderer dürfen nicht zu den eigenen werden

Zuerst Bauzeichner, dann Pflegefachmann: Noel Streit bevorzugt den Umgang mit Menschen. In der Abteilung Akutgeriatrie im Siloah in Gümligen findet er die Erfüllung. Er äussert sich aber auch kritisch zum Pflegekräftemangel.

Der Berner Oberländer Noel Streit empfängt uns in dunkelblauem Poloshirt und blütenweisser Hose, der «Arbeitsuniform» der Pflegenden im Siloah. Wie kommt ein gelernter Zeichner zum Beruf des Pflegefachmanns? «Ich wurde mit dem Lehrberuf nie richtig warm», beantwortet er unsere Frage. Er suchte nach einer Arbeit mit Menschen statt mit Objekten. Durch seine militärische Einteilung bei den Sanitätstruppen kam er auf den Geschmack. Nach einem Praktikum im Siloah entschied er sich, die Ausbildung zum diplomierten Pflegefachmann an der höheren Fachschule in Angriff zu nehmen. Diese Ausbildung schloss er mit Erfolg und Begeisterung ab. «Da wurde gerade eine Stelle in der Akutgeriatrie frei», erinnert er sich. Die Arbeit mit den älteren Patientinnen und Patienten stimme für ihn, er erlebe viel Wertschätzung. «Es kommt viel zurück. Das hatte ich im angestammten Beruf nicht, Feedback bekam ich meist als Fehlermeldung!»

Jeder Tag ist anders
Noel Streits Arbeitstag beginnt meist gegen 6.30 Uhr. Da macht er sich erst mal schlau, wen er heute im Team hat. «Jeden Tag hat jeweils ein ‹Diplomierter› die Tagesverantwortung», erzählt Noel. Dieser nimmt alle Anrufe entgegen, die auf der Abteilung eingehen. Anhand einer Liste checkt er die Eigenheiten der Patienten durch: Wie oft müssen sie überwacht werden? Welche Medikamente müssen wann verabreicht werden? Worauf ist besonders zu achten? Wer wird wann entlassen? «Kein Tag ist wie der andere. Wir müssen immer mit Unvorhergesehenem rechnen», weiss der Pflegefachmann zu berichten. So sei beispielsweise kürzlich eine Patientin auf der Toilette plötzlich nicht mehr ansprechbar gewesen – Schlaganfall! Das halte einen dann schon auf Trab, «aber sobald man mit der richtigen Behandlung beginnt, ist der Schreck vorbei und man funktioniert». Vom Nachtdienst ist Noel Streit weitgehend dispensiert, da er als Berufsbildner für den Pflegenachwuchs amtiert und die Schülerinnen und Schüler nur tagsüber arbeiten. Noel Streit bezeichnet sich selbst als besonnen und im Umgang mit Patientinnen und Patienten als «ruhiger Gemütstyp». Ausgeglichenheit und Toleranz sind gute Eigenschaften, um auch mit manchmal schwierigen Zeitgenossen umgehen zu können. Es gebe halt hie und da auch Patienten, die sich im Hotel wähnten und sich gerne bedienen liessen. «Denen muss ich beispielsweise den Nachttisch zwei Zentimeter näher zum Bett schieben», schmunzelt Noel Streit. Meist handle es sich dabei um noch sehr selbstständige Menschen. In der Akutgeriatrie werden Patientinnen und Patienten ab 65 Jahren behandelt. «Sie bleiben durchschnittlich zwischen zwei Wochen und einem Monat auf der Abteilung», erzählt Noel Streit. Es handle sich beispielsweise um frisch operierte Menschen oder solche, die Palliativcare benötigten, aber noch zu akut, um in ein Langzeitheim oder Ferienbett verlegt zu werden. «Viele sind auch bei uns für die Anpassung der Medikamente.»

Man(n) ist akzeptiert
Pflegeberufe sind auch heute noch mehrheitlich «weiblich». Wie steht es mit der Akzeptanz der männlichen Pflegekraft im Siloah? «Zu 99 Prozent positiv», so die rasche Antwort von Noel Streit. Gewiss, es gebe einzelne Patienten, die sich von ihrer Biografie her nur von Frauen pflegen lassen wollten. Dazu Noel Streit: «Meist geben uns diese Patienten den Wunsch schon beim Eintritt bekannt. Das notieren wir und das Zimmer wird dann nur noch von einer weiblichen Fachkraft betreten.» Er empfinde dies nicht als persönlichen Angriff. «Wir wissen ja nicht, was diese Menschen schon alles erlebt haben!», sagt er verständnisvoll. Wie nahe geht ihm das Schicksal der Patienten? Noel Streit überlegt: «Auf der Heimfahrt nach Feierabend bin ich oft in Gedanken noch bei meinen Patienten. Es sind Menschen, es handelt sich schliesslich nicht um ein seelenloses Produkt. Aber zuhause, wenn ich meine Arbeitskleidung abgelegt habe, kann ich mich gut abgrenzen. Wichtig ist, dass ich das Schicksal der Patienten nicht zu meinem eigenen mache.» Sorgen bereitet Noel Streit der Mangel an Pflegekräften. «Es ist nicht ein partner- und familienfreundlicher Beruf. Als ich einmal Spätdienst und meine Freundin Frühdienst hatte, sahen wir uns während fünf Tagen nicht, obwohl wir im gleichen Haushalt leben!» Der Beruf müsste attraktiver werden, auch der materielle Anreiz fehle grösstenteils, das Entlöhnungssystem in den Pflegeberufen sei verbesserungswürdig und könne mit anderen Berufen nicht Schritt halten, bemängelt Noel Streit. Ein Abschluss der höheren Fachschule hingegen sei eine ideale Grundlage für Spezialisierungen wie Anästhesie, Notfall, Intensivstation, Beratungstätigkeit. «Es bräuchte unbedingt mehr Leute. Für krankheitsbedingte Ausfälle haben wir zu wenig Kapazität, was für das verbleibende Personal eine immense Arbeitsbelastung bedeutet. Zudem können sich Arbeitspläne mehrmals in der Woche ändern, das heisst, man muss oft einspringen, mit höherem Arbeitsdruck und grösserer Verantwortung als normal. Da stösst man unweigerlich an eine Belastungsgrenze.» Noel Streit strebt eine Weiterbildung in Anästhesiepflege an. «Das wäre mega cool.»

Peter Widmer

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