Der Stecker ist gezogen. Seit knapp einem Monat ist das Kernkraftwerk Mühleberg vom Netz. Dennoch geht die Arbeit noch für Jahre weiter. Der Bärnerbär hat einen der Köpfe hinter dem Rückbau getroffen.
Noch überzieht eine Schicht Raureif an diesem Morgen den Talgrund vor dem Kernkraftwerk Mühleberg, schwache Sonnenstrahlen fallen auf das Reaktorgebäude, die Aare strömt vorbei. Für einmal zeigt sich der Arbeitsplatz von BKW-Mitarbeiter Urs Amherd, 36, von einer ungeahnt idyllischen Seite. Doch der Eindruck täuscht: Auch wenn das Kraftwerk nun seit einem Monat keine Energie mehr produziert, arbeitet die Mannschaft rege weiter. «47 Jahre hat das Kraftwerk zuverlässig Strom erzeugt. Konstante Abläufe waren das Wichtigste. Jetzt gibt es beim Rückbau viele einmalige Vorgänge», erklärt Urs Amherd die Umstellung seines Jobs. Der studierte Physiker arbeitet seit 2009 hier, wurde vom Forscher zum Praktiker. Als Schichtchef und später Pikett-Ingenieur überwachte er die Sicherheit vom Kommandoraum aus, war für alle möglichen Gefahrenszenarien trainiert und Herr über 1,5 Millionen PS.
Von der Wasser- zur Kernkraft
Dabei hatte der gebürtige Walliser mit Kernkraft als Bub noch nichts im Sinn. «In meiner Heimat gehts nur um Wasserkraft. Was die Berner da hinter den Bergen machen, war uns ganz fern.» Die Faszination für Energieerzeugung packte ihn dann im Studium. Im Detail kann er die Verschmelzung kleinster Teilchen erklären. Seine Diplomarbeit schrieb er in der Plasmaphysik. «Diese Fusionsreaktoren laufen aber leider kommerziell noch nicht», sagt er. «Die Kernspaltung hingegen funktioniert. Eine interessante komplexe Technologie, die im Moment nicht so sexy ist. Aber vielleicht kommt sie wieder.» Wie wechselhaft die öffentliche Meinung über Kernkraft sein kann, hat er 2011 miterlebt. Ein grösseres Kraftwerk war schon in Planung, die Berner Bevölkerung stimmte dafür. Nach dem Reaktorunglück in Fukushima veränderte sich die Haltung drastisch, neue Kraftwerke dürfen seither schweizweit nicht mehr gebaut werden. 2013 beschloss die BKW als Eigentümerin die Stilllegung des Kraftwerks in Mühleberg.
Planen, zerlegen, prüfen
Seitdem befasst sich Amherd mit dem Rückbau. Seinen eigenen Arbeitsplatz zu demontieren, findet er eher interessant als komisch. Technisch kennt er die Abläufe genauestens, dennoch ist der Rückbau in der Schweiz eine Pioniertat, auch für die Aufsichtsbehörden. «Alle schauen uns im Moment genau auf die Finger», stellt er fest. Nicht radioaktive Teile werden jetzt auf Boxengrösse zerlegt und in einer Anlage geprüft. Über 2000 Boxen dürften dafür nötig sein. Gerade fährt wieder ein Lastwagen vor, um weitere zu bringen. Ein anderer liefert Heizöl an. Eine kuriose Folge der Abschaltung. Früher konnte man die Gebäude mit Abwärme des Reaktors heizen, jetzt brauchts Zusatzenergie. «Was die Zukunft unserer Energieversorgung angeht, leben wir im Umbruch», erklärt Amherd. Immerhin fünf Prozent des Schweizer Energiebedarfs erzeugte das Kraftwerk in Mühleberg. Aber solch ein Reaktortyp habe klar ausgedient. Eine Verteufelung der Kernenergie findet Amherd indes zu einseitig. Wenn sie wie in Deutschland durch Energie aus Kohle ersetzt werden müsse, sei das jedenfalls der falsche Weg. Für die aktuellen Klima- und Umweltprobleme könne sie eben auch ein Teil der Lösung und nicht nur des Problems sein, findet der Mann, der seine Freizeit am liebsten mit Wandern und Skifahren verbringt. Er hofft auf politische und wissenschaftliche Lösungen.
Wie Homer Simpson?
Amherd nervt sich nicht über Vorurteile, die ihm im Alltag begegnen. «Meine Freunde fragten mich öfter, wie viele Donuts ich so die Woche verdrücke», erinnert sich der Pikettingenieur und lacht. Dank der Figur Homer Simpson wisse schliesslich die halbe Schweiz, was ein Reaktoroperateur tue. Krasse Anfeindungen hat er aber nie erlebt. Bei sich zuhause nutzt er ein Stromprodukt mit Kernenergie. Aus Überzeugung: «Ich finde, dass diese Erzeugung von Energie die kleinste Auswirkung auf die Umwelt hat, wenn man es seriös macht. Als Naturwissenschaftler bezeichne ich die radioaktiven Abfälle nicht als solche.» Ausgediente Brennstäbe enthalten immer noch viel spaltbares Material, man bräuchte dafür allerdings andere Reaktortypen. Das sei jedoch weniger bekannt und derzeit nicht umsetzbar. Für die nächsten 100 Jahre werde das Nukleare die Schweiz noch beschäftigen. Vor allem die Lösung der Abfall-Thematik.
Michèle Graf