Seit 2009 züchtet Ueli Ramseier in Hinterkappelen Seidenraupen. Ein einzigartiges Schauspiel. Optisch wie aktustisch.
«Wichtig ist», so sagt uns der 57-Jährige, «dass Sie absolut geruchsneutral zu mir kommen, kein Eau-de-toilette, kein Mückenspray. Die Seidenraupen vertragen das nicht.» Und damit ist bereits klar, dass die Raupen ebenso empfndlich sind wie ihr späterer Seidenfaden.
Ausscheidungen für Tee
Bereits vor 5000 Jahren wurden in China Seidenraupen gezüchtet. Durch die Verbreitung der Seidenherstellung wurde die Seidenraupe bis heute auch ausserhalb ihres ursprünglichen Lebensraumes verbreitet, unter anderem in Südeuropa. Die Seidenraupe ist die Larve des Seidenspinners. Die Paarung der Schmetterlinge dauert sechs bis acht Stunden. Danach legt das Weibchen in wenigen Tagen ungefähr 400 Eier und stirbt anschliessend. Die zunächst gelben Eier werden bald dunkler und schliesslich grau. Aus den befruchteten Eiern schlüpfen nach dem Überwintern die Seidenraupen. Und diese winzigen Raupen haben es in sich: Bis sie sich nach knapp einem Monat in ihrem Kokon einschliessen, fressen sie nonstop. Die entsprechenden Geräusche sind nicht zu überhören. Auf einem Bild sehen wir Ueli Ramseier mit insgesamt 35 000 (!) noch ganz kleinen Raupen. Sind sie einmal grösser, fressen sie 75 Kilogramm Maulbeerbaumblätter. Pro Tag. Und weil nonstop auch nonstop bedeutet, heisst das für Ueli Ramseier und seine Frau Bettina Clavadetscher mehrere Fütterungen von den vorhandenen 500 Maulbeerbäumen pro Tag. Das führt dazu, dass die kleinen Raupen innert eines Monats ihr Gewicht auf geradezu unglaubliche Art vervielfachen. Übrigens: Ihre Ausscheidungen eignen sich hervorragend zur Düngung oder für Tee gegen Bluthochdruck. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung lässt Ueli Ramseier in vorerst nur fünf mittelgrossen Hurden 35000 Raupen heranwachsen. 15000 wird er selber verarbeiten, 20000 an Kolleginnen und Kollegen von swiss silk verkaufen.
Ein bis zu 2500 Meter langer Seidenfaden
Zurück zum Wachstum der Raupen: Die Seidenraupe häutet sich viermal, und ungefähr vier Wochen nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei ist sie spinnreif. Die Spinndrüsen der Raupe bestehen aus einem vielfach gewundenen Schlauch, dessen hinterer Teil die aus Proteinen bestehende Seidensubstanz absondert. Das Seidenmaterial wird durch dünne Ausführungsgänge zu der im Kopf gelegenen Spinnwarze und von dort aus dem Körper geleitet. Die aus der Spinnwarze austretende Substanz erhärtet an der Luft sofort zu einem Faden. Indem die Raupe beim Austreten des Materials gezielte Kopfbewegungen macht, legt sie Fadenwindung für Fadenwindung um sich herum und schliesst sich so im Kokon ein. Dieser länglich-ovale Kokon, in drei Tagen entstanden, besteht aus einem einzigen bis zu 2500 Meter langen Faden. Sechs Tage nach dem Einspinnen verpuppt sich die Seidenraupe, nach weiteren acht Tagen schlüpft der Schmetterling, wobei er den Kokon durch eine bräunliche Flüssigkeit an einer Stelle auföst. Dazu wird es aber nicht kommen, «denn der inzwischen im Kokon herangewachsene Schmetterling würde beim Ausschlüpfen aus dem Kokon die feine Fadenstruktur zerstören, weshalb die eingesponnenen Puppen vor ihrem Schlüpfen mit Heissluft getötet werden», erklärt der Fachmann.
5000 Raupen für ein Kilo Seide
Zwischenfrage an Ueli Ramseier: Woher bezieht er seine Eier, fiegt er dafür nach China? Er lacht: «Nein, ich kaufe sie in Padua, bei Silvia Cappellozza». Sie ist studierte Agrarwissenschaftlerin, «ein Ass», fügt der Berner hinzu. Diese Reise unternimmt Ueli Ramseier zweimal im Jahr. Weshalb nur zweimal, kann man Seidenraupen nicht ganzjährig züchten? Eine Frage, die nur ein Greenhorn stellen kann, denn schliesslich braucht es die Blätter der Maulbeerbäume und die wachsen bekanntlich nicht im Winter. Der zweite Grund muss zu denken geben: «Die Raupen sind extrem empfndlich. Ich muss das Ende der Spritzsaison auf den Feldern abwarten, sonst laufe ich Gefahr, dass die Raupen beim Einsatz von Insektiziden selbst in zwei Kilometer Entfernung eingehen.» Nach dem Einsatz der Heissluft wird, so der Fachausdruck, abgehaspelt: Die Kokons kommen in heisses Wasser, um den Seidenleim, der die Seidenfäden im Kokon zusammenhält, aufzuweichen. Anschliessend kann der Faden – hat man den Beginn einmal gefunden – gezogen, auf Haspeln gewickelt und getrocknet werden. Je nach gewünschter Fadenstärke werden mehrere Fäden auf einmal aufgewickelt. Dies geschieht nicht in Hinterkappelen, sondern in Beitenwil bei Rubigen, wo Ueli Ramseier mit Teilzeitangestellten im Humanushaus, einer sozialtherapeutischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, einen Raum einer inzwischen aufgegebenen Färberei mieten konnte. Notabene: Für ein Kilogramm Seide benötigt man 5000 Raupen. Die entstehenden Seidenstränge (aus Platzgründen wird die Verarbeitung nur Twitter-mässig erwähnt) werden danach gezwirnt, eine Arbeit, die nur im angrenzenden Ausland gemacht werden kann. Anschliessend wird die Seide gefärbt und zu Tuch verwoben, zu Produkten, wie wir sie im Laden von Bettina Clavadetscher in Hinterkappelen finden. Und was ist Ueli Ramseier wichtig? «Dass man mit einem Naturnischenprodukt in der Schweiz 40 Teilzeit-Arbeitsplätze schaffen und zehn KMU mit Kleinstaufträgen beschäftigen kann, aber dazu braucht es Leidenschaft, auch wenn es in meteorologisch ungünstigen Jahren – Spätfrost, Nässe – Leiden schafft.»
Thomas Bornhauser