Corona macht auch vor Charity nicht halt: So muss die Caritas Bern die Aktion «Eine Million Sterne» auf dem Bundesplatz absagen. Stattdessen sollen die Lichter schweizweit in allen Wohnungen erstrahlen. Sachbearbeiterin Brigitte Raviele erklärt, wie das funktioniert.
Ein kurzes Zischen, dann knistert es und die kleine Kerze brennt, erhellt das rot-gelbe Glas. Auch das Gesicht von Brigitte Raviele hellt sich auf. Ein Lichtlein brennt, ein guter Anfang. In der Geschäftsstelle der Caritas Bern stehen Kisten voller Teelichthalter der Aktion «Eine Million Sterne». «Die senden wir jetzt an unsere Freiwilligen», erklärt Raviele, die als Sachbearbeiterin die Freiwilligenarbeit betreut. Anders als in den vergangenen 15 Jahren wird an diesem 12. Dezember der Bundesplatz nicht im Licht tausender Kerzen und als starkes Zeichen der Solidarität mit Armutsbetroffenen erstrahlen. Aufgrund der Corona-Schutzmassnahmen muss das beliebte Kerzenmeer 2020 ausfallen. Raviele bedauert dies: «Am Bundesplatz ergab sich immer etwas Gutes. Zum Beispiel interessierten sich Leute spontan für unsere Freiwilligenarbeit.» Sie erinnert sich an bis zu 30 Helferinnen und Helfer, die Lichter aufstellten, entzündeten und lebendig hielten. Dazu gute Gespräche, gemeinsames Essen und leuchtende Kinderaugen. All das fällt nun aus.
Ein Licht am Fenster zuhause
Doch die «Eine Million Sterne» dürfen trotzdem leuchten. Denn die Caritas ruft alle Menschen dazu auf, am Samstag zuhause ein Licht am Fenster anzuzünden. Gerade in der Adventszeit ist diese Solidarität wichtig. «Es ist eine emotionale Zeit, viele Erinnerungen kommen hoch. 2020 gibt es viele Menschen, denen es nicht gutgeht.» Da freut es Raviele besonders, dass sich gerade viele Bernerinnen und Berner bei ihr melden, die helfen möchten, Kinder beschenken wollen und spenden. «Auch junge Menschen engagieren sich freiwillig, das fasziniert mich.» Innerhalb der Aktion «Eine Million Sterne» lanciert die Caritas auch sogenannte Wunschkerzen: Online kann man dabei einen guten Wunsch für einen Menschen an die Caritas senden. Diese vermittelt die mit dem Wunsch bedruckte Kerze als Bild digital an den Empfänger weiter. Wo es die Pandemie-Lage zulässt, werden die Kerzen von Freiwilligen auch aufgestellt. Alle eingenommenen Spenden kommen Armutsbetroffenen im Kanton zugute. Anders als das Lichtermeer sind sie oft in der Gesellschaft kaum sichtbar. Das weiss Raviele aus ihrem Berufsalltag zu gut. Zu ihr kommen alleinerziehende Mütter, die sich mit drei Putzjobs über Wasser halten, genauso wie Sozialhilfebezüger und Geflüchtete, die Wege aus ihrer Lage suchen. «Die Menschen schreiben uns, rufen an, kommen vorbei. Wir erleben viele traurige Schicksale. Je nach Tagesform kann ich mal besser, mal schlechter damit umgehen», erzählt sie. Raviele bleibt dran, prüft, welche Hilfen die Caritas anbieten kann, informiert. Bei aller professioneller Distanz kommt sie manchmal doch ins Grübeln: «Wie kann es sein, dass in der reichen Schweiz manche nicht mal das Nötigste haben?» Sie verstummt kurz. Die Antwort auf diese Frage weiss niemand.
Gesuche von Selbstständigen
Die Coronakrise hat die Probleme der Armutsbetroffenen durch Kurzarbeit, Isolation und Homeschooling noch verschärft. Wie mit noch weniger Geld auskommen, wenn man schon am Minimum lebte? Derzeit arbeitet Brigitte Raviele für eine Spendenaktion, die die Caritas Bern mit der Glückskette für Menschen in der Coronakrise ins Leben rief. So konnte die Caritas Gesuchstellenden einmalige Beiträge von wenigen hundert Franken und Gutscheine der Caritas-Märkte gewähren. «Besonders viele Gesuche bekamen wir von Selbstständigen, was wir nicht erwartet hatten.» Häufig melden sich auch kinderreiche Familien, denen die Caritas teilweise mit Laptops fürs Homeschooling ganz praktisch aushelfen kann. Ob 2020 mehr oder weniger Spenden zusammenkamen, weiss die Sachberaterin nicht und ist pragmatisch: «Ich schiebe keine Zahlen und Statistiken hin und her. Ich bin hier, um Hilfe zu gewähren, solange Geld da ist.» Gelder erhalten kann beispielsweise, wer Ergänzungsleistungen bekommt, eine Prämienverbilligung von mehr als 80 Franken monatlich und einen tiefen Lohn hat. Jeder Fall wird einzeln geprüft.
Vermisst Umarmungen
Neben der materiellen Schieflage erlebte die Sachbearbeiterin auch die emotionale Not der Menschen. Im Lockdown isoliert und aus ihrem alltäglichen Rhythmus herausgerissen, verloren viele den Halt. «Ich telefonierte mit Menschen, die mit Ängsten kämpften, auch unberechtigten, und sich kaum noch aus dem Haus trauten», erinnert sich Raviele. Besonders betraf sie die Geschichte einer Familie. «Zu uns kam ein Vater, der seit Beginn der Coronakrise nicht mehr zuhause schlief. Er übernachtete nach seiner Arbeit als Reinigungskraft im Bahnverkehr bei einem Kollegen. Er sagt mir: ‹Ich habe im Job viel Kontakt zu Menschen, ich weiss nicht, ob ich jeden Tag gesund nach Hause komme.› Er wollte unter keinen Umständen das Risiko eingehen, seine Familie anzustecken.» Um das Einkommen sicherzustellen, nahm er die schmerzliche Trennung auf sich. Raviele, die selbst ein Familienmensch ist, geht das nahe. Sie vermisst auch die Umarmungen mit ihren Kindern oder ihrem Vater, um den sie sich liebevoll kümmert. So formuliert sie zuletzt für ihre persönliche Wunschkerze einen Wunsch für 2021: «Ich wünsche mir die Normalität zurück und dass wir sie wieder umso mehr schätzen.»
Michèle Graf