Von der Radiomoderatorin zur Abenteurerin: Maria-Theresia Zwyssig durchquerte mit dem Velo Wüsten, Dschungel, Megacitys und fuhr bis nach Nepal. Ein Treffen mit einer Frau, deren Wille stärker ist als jeder Muskelkater.
Blaues Velo, Funktionsklamotten und ein strahlendes Lächeln. Es scheint fast so, als wolle Maria-Theresia Zwyssig gleich wieder losradeln. Nur die dicken Gepäcktaschen fehlen. Die Abenteurerin, die in den letzten Jahren zweimal mit dem Velo nach Nepal fuhr und als erste Schweizerin in einer Saison den Great Himalaya Trail über 1700 Kilometer bezwang, muss die Reiselust derzeit im Zaum halten. Corona funkt auch ihr dazwischen.
Liebe auf den ersten Blick
Dennoch schiebt die quirlige Radiomoderatorin keine schlechte Laune. Ihre Reisen waren eine Lebensschule: niemals aufgeben, sich auf sich selbst verlassen, kreativ jedes Problem angehen. 2013 startete sie ihre erste Tour, 2018 fuhr sie auf einer anderen Route nochmals nach Nepal, um danach auf der längsten Trekkingroute des Landes 17 5000er-Pässe zu überwinden. Aber warum fährt eine mit dem Velo 15000 Kilometer durch 20 Länder? Zwyssig lacht: «Das werde ich ganz oft gefragt.»
Alles begann mit dem Traum, mal ein Jahr für sich selbst Zeit zu haben und die tibetische Familie zu besuchen, bei der sie einige Jahre zuvor für ein Gastaufenthalt gewohnt hatte. Nur wie hinkommen? Flugzeug, Zug? Velo! «Als mir der Gedanke kam, war es Liebe auf den ersten Blick.» Ein Jahr studierte die Bernerin Routen, plante, organisierte Visa. Auf ihrer Solo-Tour musste sie sich selbst motivieren und Emotionen alleine aushalten. «Ich konnte niemand anderem die Schuld geben, wenns nicht lief. Aber ich lernte auch, auf mich selbst zu achten und lebte im Moment.» Bei 45 Grad und mit leerem Magen durchquerte sie eine 700 Kilometer lange Wüste: «Da zog mich niemand durch.» Keine Panik, weiterfahren, die eigenen Grenzen verschieben.
Stets zitiert Zwyssig ihre Erfolgsformel: 100 Prozent Material, 80 Prozent Kopf, 20 Prozent Körper. In der Tat ist sie kein Fitnessfreak, vor ihrer ersten Tour gurkte sie lediglich «mit Grosis Velo von A nach B». Auf ihren Routen fuhr sie langsam, konstant, vorsichtig. Ein falscher Tritt, Fussbruch und die Tour wäre vorbei gewesen. Aber Ängste und Rückschläge halten Zwyssig nicht vom Abenteuer ab. Vielmehr scheinen Impulse von lieben Mitmenschen ihr stets zur richtigen Zeit Mut und Hoffnung zu geben. «Schon zu Beginn des Himalaya Trail drohte ich zu scheitern. Nach Streit in der Guidetruppe musste ich nach zehn Tagen abbrechen und zurückwandern.» Ein Jahr Anfahrt, Strapazen und Tausende Franken Reisekosten. Und jetzt platzte ihr Traum, den Trail in einer Saison zu schaffen! «Das war der Tiefpunkt meines Lebens, ich hätte im Schnee versinken können.»
Ein Kollege redete auf sie ein, sich aufzurappeln. Zwyssig wurde aktiv und fand einen neuen Guide, der einen extremen Plan erdachte. «Er sagte mir: Du schaffst den Trail, aber du musst 79 Tage ohne Pause wandern.» Mit Respekt vor den Bergen und den Menschen schaffte sie diese Herausforderung.
Die Gedanken in der Nacht
Es sind eben die unzähligen Begegnungen, die Zwyssig auf ihren Reisen – grösstenteils auf nicht touristischen Routen – schätzt. Sie zollt Land und Leuten Respekt, wenn es erforderlich ist, trägt sie in den Staaten des Nahen Ostens Kopftuch. «Sonst würde ich ja noch mehr auffallen.» 99 Prozent ihrer Erfahrungen seien positiv. «Iran ist das gastfreundlichste Land. Dort übernachtete ich mal mit meinem Zelt auf einem Kreisel in einem kleinen Dorf. Die Bewohner brachten mir Unmengen Essen, Polizisten fragten mich, ob ich mich sicher fühle. Sie kamen in der Nacht alle zwei Stunden vorbei.» Am nächsten Morgen überraschten die netten Beamten die Velofahrerin mit Tee und sie wurde vom Stadtrat empfangen. Er bedankte sich aufs Herzlichste für Ihren Besuch. War dies der schönste Augenblick? Zwyssig überlegt kurz: «Ich erlebte 1000 schöne Momente unterwegs, aber eigentlich war das Beste, nach Hause zu kommen und meine Mama zu umarmen.»
Zwyssig ist bewusst, dass sie sich auf ihren Reisen als «reiche» Europäerin eine grösstmögliche Mobilität gönnen kann. «Auf dem Himalaya Trail wanderte ich oft durch Dörfer, traf Frauen, die dort feststecken und nie auch nur bis Kathmandu kommen werden. Manchmal konnte ich dann nicht schlafen und dachte: Ich habe das Privileg, meine Träume leben zu dürfen, sie haben nicht einmal die Möglichkeit dazu.»
Umso mehr fühlte sie nach ihrer Heimkehr, dass sie ihre Erlebnisse und Dankbarkeit teilen möchte. Heute hält Zwyssig das erste Buch über sich in den Händen, ist eine gefragte Referentin. «Ich freue mich, wenn ich Menschen inspirieren kann. Einmal sprach ich vor einer Klasse und ein Schüler sagte mir, er wolle das Gleiche machen wie ich. Drei Jahre später erhielt ich eine Postkarte: Er war mit dem Velo nach Genua gefahren.»
Michèle Graf