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«In der Lokomotive gibt es keinen Geschlechterunterschied»

Wenn Natalie Zysset über ihren Beruf spricht, spürt man sofort ihre grosse Leidenschaft. «Es fägt doch, unterwegs zu sein», sagt die Berner Lokführerin.

Sie war einmal Primarlehrerin. Doch das fand sie einfach anstrengend und stressig. Heute heisst sie sogar unregelmässige Arbeitszeiten willkommen. Weshalb sie aber in einem «Männerberuf» arbeiten soll, versteht sie nicht. «Für mich gibt es diese Kategorisierung gar nicht.»

Wie sind Sie eigentlich Lokführerin geworden?
Eher durch Zufall. Nach der Matur arbeitete ich zwei Jahre lang als Primarlehrerin. In diesem Beruf steht man konstant im Mittelpunkt. Auch nach Feierabend und in der Freizeit liess mich die Schule oft nicht los. Das alles empfand ich als sehr anstrengend und stressig. Verunsichert ging ich in die Berufsberatung, wollte etwas anderes machen. Von den diversen Berufsbildern faszinierte mich Lokführerin sofort. Allein unterwegs zu sein gefällt mir, technische Sachen und Maschinen interessierten mich schon immer.

Ihr Traumberuf war das also nicht schon immer?
Als Kind wollte ich erst Astronautin, dann Kräuterhexe werden. Später auch noch Kassiererin, da ich in der Schule gerne gerechnet habe. Oft werde ich gefragt, ob mir das Bähneler-Gen in der Familie vererbt wurde. Erst spät, als ich schon Lokführerin war, erfuhr ich, dass mein Urgrossvater Heizer im Dampflok-Depot Strättligen bei Thun war.

Wie entscheidet man sich als Frau für einen typischen «Männerberuf»?
Diese Unterteilung fand ich schon immer komisch und unnötig. Für mich gibt es diese Kategorisierung eigentlich gar nicht. Warum sollen Frauen nicht das Gleiche können und machen wie die Männer? In der Lokomotive gibt es sowieso keinen Geschlechterunterschied, ich verdiene gleich viel wie ein Kollege mit gleicher Berufserfahrung.

«Ich bin mir schon bewusst, dass immer etwas passieren kann.»

Würden Sie sich wünschen, dass mehr Frauen diesen Beruf wählen?
Bei der Arbeit merke ich gar nicht mehr, dass ich mehrheitlich mit Männern arbeite. Wir kommen alle gut miteinander aus, respektieren uns gegenseitig. Trotzdem fände ich es cool, wenn es mehr Frauen hätte. Im Depot Bern arbeiten aktuell fünf Lokführerinnen, schweizweit liegt der Frauenanteil bei knapp fünf Prozent.

Dass Ihnen der Job Spass macht, merkt man. Was genau ist der Reiz daran, was macht das Lokfahren so spannend und abwechslungsreich?
Es fägt doch, unterwegs zu sein. Jeden Tag acht Stunden im Büro zu sitzen wäre gar nichts für mich. Auf den Fahrten geniesse ich die Landschaft, sehe, wie sich die Natur im Jahresverlauf verändert. Wer wie ich gerne in die Berge geht, schätzt auch die unregelmässigen Arbeitszeiten. Wandern ist doch wunderschön, wenn es wenig Leute hat. Weiter schätze ich am Beruf das entspannte Arbeitsklima. Wir haben untereinander keinen Konkurrenzdruck, helfen uns gegenseitig gerne aus. Enorm wertvoll finde ich, dass am Feierabend wirklich Schluss ist. Man nimmt keine Arbeit mit nach Hause, kann abschalten und die Freizeit unbelastet geniessen.

Die unregelmässigen Arbeitszeiten machen Ihnen also nichts aus. Was unternehmen Sie denn sonst noch so in Ihrer Freizeit?
Den langweiligen Alltagstrott kenne ich dank der speziellen Arbeitszeiten nicht. In der Freizeit engagiere ich mich mit Freunden zusammen in einem Schrebergärtli, geniesse immer wieder die gemeinsame Zeit mit meinem Patenkind und seiner Familie oder bin an einem Konzert.

Fährt auf der Schiene die Angst mit? Vor Unfällen, vor Menschen, die sich im Bereich der Gleise befinden?
Ich bin mir schon bewusst, dass immer etwas passieren kann. Es gibt öfter mal heikle Situationen. Zum Beispiel bei der Einfahrt in einen Bahnhof, wenn jemand auf dem Perron die weisse Linie überschreitet oder vom Zuglärm aufgeschreckt wird. Respekt habe ich, Angst aber nicht.

War es auch schon einfacher, Lokführerin zu sein? Derzeit steht die SBB ja unter sehr genauer Beobachtung der Medien.
Die SBB steht immer unter strenger Beobachtung. Alle wollen bei diesem Thema mitreden. Es ist halt ein grosser, sehr bekannter Betrieb. Da haben viele das Gefühl, sie wüssten, was man besser machen muss. Damit habe ich aber kein Problem.

Jürg Morf

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