Traditionen erhalten und für alle zugänglich machen. In Wabern verleiht Annemarie Burri seit Jahrzehnten Berner Trachten und hegt und pfegt so mittlerweile den grössten Trachtenfundus der Schweiz.
Mit fünf Trachten fing alles an. Heute schmunzelt Annemarie Burri über diese kleine Zahl, wenn sie im Untergeschoss ihres Hauses steht. Raum um Raum, Kleiderstange um Kleiderstange – alles voll mit Miedern, Jupes, Hemden, Schuhen, Hauben, Hüten und Schmuck. Seit 1985 ist ihre Sammlung um mehr als das Hundertfache gewachsen: «Wir haben hier etwa 500 bis 600 Trachten», schätzt sie und streift im Fundus ihres Verleihs mit der Hand über unzählige bunte Schützen – aus Seide für Feste, schlichtere für den Alltag.
In ihrem Geschäft in Wabern können die wertvollen Stücke ausgeliehen oder auch gekauft werden. Hier finden sich Trachten aus der ganzen Schweiz, hauptsächlich aus den Regionen Bern, Berner Oberland und Aargau. Ob Schwingfest, Theaterproduktion, Auslandsdelegation oder Hochzeit, es gibt kaum einen Anlass, den die Trachtenstube Burri nicht ausstatten könnte.
Gerade im Sommer haben Annemarie Burri und ihre Tochter Claudia, die das Geschäft mittlerweile führt, stets am meisten zu tun. «Im Sommer 2019 haben wir jedes Wochenende gearbeitet», erinnert sich Annemarie Burri an Vor-Corona-Zeiten. 2020 litt das Business deutlich unter den vielen abgesagten Anlässen.
Nur einmal war sie untreu …
Warum die Tracht sie schon lebenslang fasziniert, kann Annemarie Burri nicht so recht in Worte fassen. Sie sei einfach ein Stück Heimat und Identität. Auch wenn Burri im Alltag natürlich keine Tracht trägt, kann sie sich ein Leben ohne das traditionsreiche Kleidungsstück nicht vorstellen.
Ihre Augen leuchten, wenn sie sich an ihre erste, eine farbenprächtige Freudenberger Tracht aus dem Emmental, erinnert. «Ich ging auf Schulreise und an allen Feiertagen in Tracht. Das war bei uns auf dem Land so.» Die Trachtengruppe war ihr liebstes Hobby. Nur einmal wurde sie ihrem Lieblingskleidungsstück untreu: «Geheiratet habe ich in einem modernen Hochzeitskleid.» Sie überlegt einen Augenblick: «Aber an meinem Polterabend sang natürlich eine Trachtengruppe.»
Der Verleih zieht Kunden aus der ganzen Schweiz und gar aus dem Ausland an. Von der Bauernfamilie bis hin zu Beamten ist alles dabei. «Stars wie Liselotte Pulver oder Massimo Rocci waren schon hier», erinnert sich Annemarie Burri an berühmte Kunden. Ebenso staffierte sie Botschafter und den Bundesrat aus. Mit ihrem Verleih haben die Burris auch dazu beigetragen, jedem den Zugang zur Trachtenwelt zu ermöglichen. «Eine in 80 Arbeitsstunden handgefertigte Tracht nach Mass kostet 7000 Franken. Das könnte sich nicht jeder leisten», meint Annemarie Burri. Eine Miete übers Wochenende liegt bei 250 Franken.
«Umdrehen, vorne schliessen!»
Besonders aufregend sind für sie Hochzeitskleid-Anproben. «Die meisten Kundinnen wünschen eine Berner Sonntagstracht. Dazu verleihen wir dann eine wunderschöne Hochzeitskrone, passend zum Trachtenschmuck.» Jüngere Bräute nutzen das Traditionskleid oft für die Zivilhochzeit, ebenso sind Trachten bei Konfrmationen im Kommen. Dieser Trend freut die Trachten-GrandDame: «Durch das Schwingen sind sie wieder populärer geworden.»
Obwohl es da Fallstricke gäbe. So erinnert sich Burri an einen verzweifelten Anruf eines Mannes, der seiner Frau beim Ankleiden helfen wollte. «Er sagte mir, er ziehe und ziehe. Die Frau liege auf dem Bauch, aber das Mieder ginge nicht zu.» Die Trachtenkennerin erwiderte gelassen: «Umdrehen, Sie müssen das vorne schliessen.» Über solche Episoden lacht Annemarie Burri heute. In 36 Jahren hat sie wahrlich vieles gesehen und sucht nun für ihr Geschäft eine Nachfolge. «Die Trachtenstube ist mein Lebenswerk und ich hoffe, dass sie nun in jüngere Hände übergehen kann.»
Michèle Graf