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Kein Heimweh nach Weihnachten im Schnee

Aus eine Faszination für Ägypten ist ein Lebensentwurf geworden: Juliette Kaltenrieder Farag aus Herrenschwanden lebt in einer Oase und bewirtschaftet dort eine Farm mit Dattel- und Olivenanbau.

Während man hierzulande dieser Tage Geschenke besorgt, Guetzli backt und den Tannenbaum schmückt, herrscht bei der Bernerin Juliette Kaltenrieder Farag kaum Weihnachtsstimmung. «Der 24. Dezember ist eigentlich ein Tag wie jeder andere», lacht die Auswanderin, die seit nunmehr 14 Jahren in Ägypten lebt. «Einmal haben mich meine Mitarbeiterinnen an Heiligabend mit einer Einladung überrascht, weil sie wissen, dass wir das Fest feiern. Ich bin hier aber wahrscheinlich die einzige Nicht-Muslimin.»
Hier bedeutet in diesem Fall die Wüstenoase Bahariya, 370 Kilometer von Kairo entfernt. Das Gebiet erstreckt sich auf 100 Kilometer, ist dörflich besiedelt. Am Rand der Oase steht Kaltenrieders Farm: Hier baut sie zusammen mit ihrem Mann auf drei Hektaren hauptsächlich Datteln, Oliven und Hibiskus an. Gerade liegt eine dreimonatige Erntezeit mit viel körperlicher Arbeit hinter ihnen. «Dann sind wir zu 200 Prozent beschäftigt.» Kaltenrieder würde dennoch nie gegen einen Bürojob tauschen wollen. «Wir arbeiten in der Natur. Das Leben hier ist entschleunigter und ursprünglich, das gefällt mir.»
Vor allem fasziniert sie aber das Eintauchen in die ägyptische Kultur, in der sie sich ihren Platz erst erarbeiten musste. «Es ist eine ganz andere Welt. In dieser Herausforderung habe ich viel über mich selbst gelernt. Ich reflektiere meine Herkunft, Werte und Kultur nun aus einem anderen Blickwinkel», resümiert sie. Im Gegensatz zum diversen Kairo leben die Bewohnenden der Oase oft in traditionellen Familienstrukturen, es gibt Clans. Inzwischen denkt die Bernerin anders über kinderreiche Familien als früher. «Viele meiner unterschwelligen Vorurteile habe ich revidiert, seit ich mit den Menschen hier lebe und verstehe, warum sie so leben. Ich bin toleranter geworden und schätze ihre Art.» So erzählt Kaltenrieder von ihrer ältesten Mitarbeiterin, die zehnfache Mutter ist. «Niemand auf der Welt wäre besser in dieser Aufgabe gewesen. Sie geht darin auf.»

Emanzipation in der Wüste
Die meisten Frauen der Oase sind vollverschleiert. Dennoch erlebt Kaltenrieder sie nicht alle als unterdrückt. Viele gehen arbeiten, sind in der Partnerwahl freier, die Rollenbilder wandeln sich. «Es gibt gar schon die Entwicklung, dass es bessere Jobangebote für die Frauen gibt und nur sie in der Familie arbeiten gehen, während die Männer noch keine Anstellung gefunden haben.» Sie selbst trägt kein Kopftuch, wird als Chefin der Farm akzeptiert, steht auf eigenen Beinen. Als Westlerin nehme sie natürlich eine Sonderstellung ein, gibt Kaltenrieder zu. «Ich habe Narrenfreiheit. Aber vor allem, weil ich integriert und schon lange hier bin.» Zudem spricht die Bernerin die Landessprache.

Die neue Heimat gefunden
Der Wunsch Arabisch zu lernen, war es auch, der sie 2008 nach Ägypten führte. «Schon seit ich ein Kind war, wollte ich die Sprache können. Ein grosser Auslöser für meine Faszination war sicher meine Grossmutter, die die arabische Welt sehr mochte und 109 Länder bereist hat.» Kaltenrieder erwies sich als begabt, Arabisch flog ihr zu. Was als einjähriger Aufenthalt geplant war, wurde schnell zu einer Auswanderung, als sie auf einer Wüstentour Guide Montaser Farag kennenlernte. Sie heirateten und boten in den ersten Jahren touristische Touren an. Nach dem arabischen Frühling und dem Übernachtungsverbot in der Wüste ist dieses Geschäft jedoch fast zum Erliegen gekommen. Ein herber Rückschlag. Doch die Farags fassten einen neuen Plan und stellten 2013 auf Landwirtschaft um. Heute haben sie zwei Festangestellte und ein Team aus fünf Mitarbeiterinnen. Ihre Erzeugnisse vertreiben sie in Ägypten und in der Schweiz. Nicht erst seit der Coronakrise ist auch dieser Handel schwieriger geworden. Kaltenrieders grösste Herausforderung ist es, zuverlässige Abnehmer zu finden. Gerade hat sie wieder Pakete mit Datteln, Dattel-Truffes und Olivenöl über die Crowdordering Plattform Gebana in die Schweiz gesendet. Seit 15 Monaten war sie selbst nicht mehr in der alten Heimat. Die Pandemie erschwert das Reisen. Traditionen und Essen vermisst Kaltenrieder weniger: «Eher Familie und Freunde, zu denen ich immer den Kontakt gepflegt habe. Ich mag es, in beiden Kulturen zu leben.» In normalen Zeiten versucht sie stets ein paar Monate am Stück in der Schweiz zu sein. Zur Rückwanderin möchte sie trotz mancher Unsicherheit in Ägypten nicht werden, das sei höchstens Plan C. Schon allein ihrem Mann zuliebe, der in seiner Heimat verwurzelt ist. Eben solche Wurzeln hat sie auch geschlagen. «Vom anfänglichen Status als Gast, bin ich nach und nach für viele Menschen hier eine Freundin geworden.»

Michèle Graf

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