Wüstendörfer 01

Lena-Lisa Wüstendörfer gibt anderen gerne mal den Takt vor

Als Dirigentin ist Lena-Lisa Wüstendörfer (36) in ein immer noch von Männern dominiertes Feld getreten. Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, hat sie aber nicht. Sie überzeugt in Orchestern und Chören durch ihre Fach- und Sozialkompetenz.

Wallende, weisse Haarmähne und exzentrisch: So etwa hält sich im Volksmund hartnäckig das Klischee des Stardirigenten. Spätestens dann, wenn man Lena-Lisa Wüstendörfer gegenübersitzt und mit ihr spricht, muss dieses Klischee über Bord geworfen werden. Jung, dynamisch, elegant, humorvoll und entwaffnend «normal», so das Fazit meiner Begegnung mit der jungen Dirigentin. Sobald sie über Musik spricht, ist das «feu sacré» spürbar, ist sie im Redeschwall kaum zu bremsen. Kunst und Kultur nahmen im Alltag der Schauspieler-Familie Wüstendörfer eine wichtige Rolle ein. Mit fünf Jahren spielte Lena-Lisa Blockflöte, mit neun Jahren kam das Klavier dazu und ein Jahr später die Violine. «Ab diesem Alter wurde die Musik mein wichtigstes Hobby», blickt sie zurück, Probenarbeit war für sie nie ein Müssen. Bis sie etwa 17-jährig war, hatte sie auch komponiert. Den Vergleich zum Wunderkind Mozart weist sie jedoch energisch zurück…

Thailand und der Gesichtsverlust
Wie kommt es, dass eine junge Musikerin gleich zum Dirigierstab greifen will? Dazu Lena-Lisa Wüstendörfer: «Mich fasziniert, wie man mit Orchesterklängen auf der Bühne ein ganzes Publikum emotional berühren kann. Als Dirigentin kann ich den Orchesterklang massgeblich mitgestalten.» Es gehe ihr beim Dirigieren nicht in erster Linie darum, die Musiker für ihre eigene Idee zu begeistern, «sondern ich stelle mich in den Dienst des Komponisten. Bei mehrdeutigen Stellen würde ich manchmal am liebsten beim Komponisten nachfragen, aber das geht ja in den meisten Fällen leider nicht mehr …» Lena-Lisa Wüstendörfer ist als Gastdirigentin auch international gefragt, so leitete sie unter anderem auch das Thailand Philharmonic Orchestra in Bangkok. Andere Länder – andere Sitten und Kulturen. Wie stellt sie sich darauf ein? Sie antwortet schmunzelnd mit einer Anekdote: «In der ersten Probe war eine Passage bei der Horn-Gruppe nicht ganz rein. In anderen Orchestern korrigieren das die Musiker selber, ohne dass das Orchester lange warten muss. Nicht so in Thailand. Dort erwarteten die Musiker, dass ich als Dirigentin die Akkorde ausstimmen liess und dies genau anleite. Warum? Die Thailänder wollten untereinander nicht das Gesicht verlieren!»

Schokolade vor dem Auftritt
Lena-Lisa Wüstendörfer ist Initiantin und Mitgründerin des Swiss Orchestra (siehe auch Kasten). Wie kam es dazu? «Als Gastdirigentin wurde ich im Ausland immer wieder dazu aufgefordert, doch noch ein Schweizer Stück aus der Klassik und Romantik vorzuschlagen. Da fiel mir auf, wie wenig Schweizer Sinfonik überhaupt präsent ist.» So stöberte die studierte Musikwissenschaftlerin Wüstendörfer in den Musikarchiven nach Schweizer Komponisten – und wurde fündig: «Ich habe fantastische Trouvaillen gefunden, sowohl in der Romandie als auch in der Deutschschweiz. Die Komponisten waren zu ihrer Zeit sogar sehr erfolgreich, verschwanden dann aber aus ungeklärten Gründen wieder in der Versenkung. Diesen blinden Flecken in der Schweizer Kulturgeschichte hellen wir nun auf!» Mit dem Swiss Orchestra will die junge Dirigentin die Arbeiten dieser Komponisten wieder erlebbar machen. Hälftig besteht das Programm aus Werken von Schweizer Komponisten aus Klassik und Romantik und hälftig mit allgemein bekannten und berühmten Kompositionen anderer Länder. Wie steht es mit dem Lampenfieber vor Auftritten? Die Orchesterchefin ist bekannt dafür, dass sie unmittelbar vor dem Auftritt gerne Schokolade verspeist. «Manchmal wissen das die Musiker und fragen mich besorgt, ob ich meine Portion Schokolade schon gegessen habe. Wenn ich bejahe, sind sie beruhigt!», lacht Lena-Lisa Wüstendörfer. Das sei so ihr kleines Ritual, um den Adrenalinschub in Grenzen zu halten. Ein eigentliches Dirigenten-Vorbild hat Lena-Lisa Wüstendörfer nicht. «Aber Claudio Abbado, bei dem ich Assistenz-Dirigentin war, und mein Mentor Roger Norrington haben mich geprägt. Es war wahnsinnig spannend, von diesen sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten zu lernen.» Lena-Lisa Wüstendörfer ist nicht einseitig fixiert auf so genannte ernste Musik. «Ich schalte am Radio nicht nur den Klassik-Sender ein. Ich höre mir querbeet jeden Musikstil an, kann aber nicht überall mitreden. Expertise besitze ich nur in der Klassik. Gute Musik ist für mich, wenn sie mir auch nach zehnmaligem Hören nicht verleidet.»

Peter Widmer

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