Wer wissen will, wie man in Bern früher lebte und dachte, kann bei ihr fündig werden: Stephanie Gropp leitet in der Burgerbibliothek den Bereich grafische Sammlung, Fotoarchiv und Gemälde – und wird dabei manchmal auch zur Detektivin.
280 000 Aquarelle, Zeichnungen, Druckgrafiken und Fotografien: Das ist der Schatz, über den Stephanie Gropp in ihrem Berufsalltag wacht. Die Leiterin der Sammlung von Grafiken, Fotografien und Gemälden der Burgerbibliothek Bern ist von ihrem vielfältigen Job begeistert: «Jeder Tag ist eine Wundertüte.» Manchmal muss sie sich durch Berge an Papier kämpfen, Handschriften entziffern, Leihanfragen zu Zeichnungen beantworten, nach der Herkunft eines langverschollenen Ahnenporträts suchen oder aktuelle Eigentümer finden. «Oder es meldet sich jemand, der ein Porträt gefunden hat, aber nicht weiss, wer drauf ist.» Gelegentlich braucht sie da detektivischen Spürsinn, mit der Kundschaft und Kunstschaffenden hingegen Feingefühl und Expertise. Denn das grosse Ziel des öffentlichen Archivs ist es, möglichst allen die Bestände zugänglich zu machen.
Die Burgerbibliothek nimmt in die Sammlung auf, was von künstlerischem und dokumentarischem Wert ist und mit der Stadt und der Burgergemeinde in Verbindung steht – ausser Ölgemälde. «Wir sind kein Museum», so Gropp. Ölporträts werden vor Ort fotografiert und mit einer genauen Beschreibung im Archiv dokumentiert. Über 6400 Werke sind so bereits in den letzten 60 Jahren zusammengekommen. Es ist einzigartig, dass in Bern viele Bilder in Privatbesitz der Nachfahren sind, die diese hegen und pflegen. Der Vorteil: Diese Erbstücke können in Familienbesitz bleiben, sind aber Forschenden und Interessierten trotzdem per Abbildung zugänglich. Sortiert ist die Datenbank für alle Suchenden nicht nur nach abgebildeten Personen, sondern auch nach Künstlern. So kann man sich auf einen Blick alle Porträts heraussuchen, die ein Maler erstellt hat.
Anders als in den 60ern muss sich hier aber niemand mehr durch Zettelkästen oder Fotoordner kämpfen. Alle Porträts können online recherchiert und digital betrachtet werden. «Wenn eine Reproduktion von einem Bild in Privatbesitz gewünscht wird, nehmen wir Kontakt zu den Eigentümern auf», so Gropp. Wer interessiert sich für solche Berner Geschichte in Bildern und Zeichnungen? «Vom Kunsthistoriker über Kostümbildner bis zum engagierten Laien ist alles dabei. Manche wollen Ahnenforschung betreiben, ein Buch schreiben oder suchen Vergleichsobjekte.»
Für künftige Generationen
Dass Geschichte langweilig und irrelevant sei, diesem Vorurteil widerspricht Gropp mit Elan. «Wir sind ein Schaufenster in die Geschichte, bewahren Dinge nach Möglichkeit für immer auf. Und wir denken auch an künftige Generationen: Was müssen wir für sie aufbewahren? Das, was wir heute erleben, ist schliesslich in der nächsten Generation Geschichte.»
Je länger, je mehr muss sich die Bibliothek auch Gedanken über digitale Langzeitarchivierung machen. So werden sicher auch digitale Kunstwerke oder Fotos bald in die Sammlung Eingang finden, inklusive Metadaten. Oder Chatverläufe von Künstlerfreunden? Ein Sammlungskonzept legt genau fest, was ins Archiv kommt. Gropp denkt dabei auch aus Sicht der Benutzerinnen und Benutzer. Was wird gesucht, was vermutet man hier? Wenn dem Archiv ein zusammenhangloses Einzelstück angeboten wird, wird es schwierig mit der Aufnahme.
Gropp betreut auch die eigene Porträtsammlung der Burgerbibliothek. «Hier archivieren wir Bilder von namhaften Berner Persönlichkeiten.» Die Stadt Bern ist ein richtiges Porträt-Mekka, da ab dem 17. Jh. Standesporträts unter Berner Patriziern sehr beliebt waren. Gropp gerät ins Schwärmen: «Das brachte bedeutende Porträtmaler hierher. Porträts sind eines der wichtigsten Felder Berner Kunstschaffens bis ins 19. Jh.» Rund 15 000 Porträts hat die Bibliothek bisher erfasst. An Porträts könne man nicht nur etwas über den Stil der jeweiligen Zeit lernen, sondern auch über die Lebenswelten der Menschen, so Gropp. Welche Vorstellungen von Frauen oder Familie fand man früher richtig? Wie entwickelten sich alteingesessene Familien weiter? «Wir sind verhangen in unserer Gegenwart, schauen wir auf die Geschichte, können wir eine grössere Perspektive gewinnen.» Sie deutet auf ein Familienporträt aus dem 19. Jh., das man zum 60-jährigen Jubiläum der Porträtdokumentation in einer Animation online betrachten kann. «Das ist eine Daguerreotypie, eine frühe Form des Fotos. Was wird das Mädchen gedacht haben, das in der Bildmitte steht? Sie musste lange stillsitzen und war sicher sehr aufgeregt. Als sie erwachsen war, war die Fotografie schon weiter und als sie eine alte Dame war, gab es dann Illustrierte. Was sie wohl von Selfies halten würde?» Solche Brücken in die Gegenwart zu schlagen, macht der Kunsthistorikerin immer wieder Freude.
Faszination Nachlässe
Eine besondere Faszination üben auf sie Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern aus. Vordrucke, Tagebücher, Fotos aus dem Atelier und von Ausstellungen, Notizen – alles kann dabei sein. So tut sich vor Gropp und ihren Kollegen und Kolleginnen Dokument für Dokument ein ganzes Leben auf, die Genese von Kunstwerken wird sichtbar, die teils chaotische Arbeitsweise von Künstlern, die Inspirationen. Es ist, als würde man den Kunstschaffenden über die Schulter schauen. «Neu haben wir die Nachlässe von Marguerite Frey-Surbek und Victor Surbek mit 14 500 Einzelwerken hereinbekommen.» Nun sortiert Gropp Doppeltes aus, ordnet zu. «Das Künstlerpaar ist durch diesen Atelier-Nachlass in seiner ganzen Bandbreite abgebildet.»
In solchen Nachlässen finden sich auch menschliche Verbindungen: Kunstwerke mit Widmungen beweisen, welche Berner Künstler in engem Kontakt standen. Diese fanden Platz in der neuen Jahresausstellung der Burgerbibliothek: Freunde fürs Leben.
Und wenn die Kunsthistorikerin selbst eine Zeitreise unternehmen dürfte, in welches Bern würde sie reisen? Gropp kann sich kaum entscheiden: «Zuerst würde ich Künstler wie Roland Werro in der 60ern besuchen. Oder mir die von Christo und Jeanne-Claude verhüllte Kunsthalle von 1968 anschauen. Da war etwas los in Bern.» Die andere Station wäre für sie das 19. Jh. mit all seinen Umbrüchen. Sie lacht: «Dann würde ich mich fotografieren lassen. Mal schauen, ob ich so lange stillhalten könnte.»
Michèle Graf
PERSÖNLICH
Stephanie Gropp, 48, stammt aus Koblenz (D), studierte Kunstgeschichte in Bonn und Mainz und kam vor zehn Jahren nach Bern. Sie arbeitet seit 2016 in der Burgerbibliothek. In ihrer Freizeit besucht sie gerne Museen, Brockis und Flohmärkte oder treibt Sport.