Pinto 7

«Momentan sind die Schlafangebote fast voll»

Silvio Flückiger arbeitet seit 17 Jahren bei Pinto, Berns Streetworkern. Wie es kurz vor Weihnachten auf der Gasse zugeht und wieso es derzeit schwierig ist, einen Platz zum Übernachten zu finden.

Weihnachten steht vor der Tür und in den letzten Tagen war es bitterkalt. Wie ist die Stimmung auf der Strasse?
Die Stimmung auf der Strasse ist relativ gut. Was uns auffällt, ist, dass viele unserer Klienten, also Personen am Rand der Gesellschaft, im Moment klar weniger präsent sind. Viele können in der Weihnachtszeit auch bei Freunden und Verwandten unterkommen, auch wenn dort über das Jahr der Kontakt nicht so eng ist. Dort können Sie im Kreis der Familie feiern.

Diejenigen, die man auf der Gasse antrifft, sind nicht gefrustet?
Natürlich ist die Weihnachtszeit die Zeit, in der man sich am meisten ausgeschlossen fühlt, wenn man nicht viel Geld hat und Menschen sieht, wie sie mit Geschenken herumlaufen. Das sorgt dafür, dass sie deutlich merken, dass sie nicht dazugehören. Für einige ist das schon eine belastende Situation.

Wie gehen die Personen damit um – und Sie?
Wie sie damit umgehen, ist ganz unterschiedlich. Einige ziehen sich zurück, weil sie das ganze Weihnachtsspektakel einfach nicht sehen und mitbekommen wollen. Andere versuchen etwas davon zu profitieren, weil während der Weihnachtszeit der Geldbeutel etwas lockerer sitzt. Da kann man mit Betteln den ein oder anderen Zusatzfranken verdienen. Wenn es richtig kalt wird, führen wir unseren Obdachlosentreff «punkt6» im 7-Tage-Betrieb ein. Ausserdem haben wir bei grosser Kälte auch abends zwischen 18 und 23 Uhr geöffnet.

Wie nennt man die Personen eigentlich, die auf der Strasse leben? Randständige, Obdachlose? Beides?
Menschen. Für mich sind das einfach Menschen. Einige mit einem speziellen Schicksal. Es gibt keinen Grund, diese Personen in bestimmten Kategorien einzuordnen.

Ab wann werden Sie aktiv?
Wir sind immer tätig. Wir sind täglich draussen, ausser sonntags. Zwischen 9 und 23.30 Uhr arbeiten wir und versuchen für die Menschen da zu sein, sie zu beraten und zu unterstützen.

Machen Sie in der kalten Weihnachtszeit mehr Touren?
Plus drei Grad und vorher drei Tage Regen ist genauso schlimm oder schlimmer als minus fünf oder minus zehn Grad. Wir machen unsere Touren davon abhängig, wie die Leute gesundheitlich aufgestellt sind und ob sie die entsprechende Ausrüstung für die kalten Temperaturen haben. Wenn es ganz kalt wird, machen wir zusätzliche Nachtschichten.

Warum schlafen manche Leute freiwillig bei dieser Kälte draussen?
Im Moment sind die meisten Schlafangebote praktisch voll und es ist schwierig, Plätze zu bekommen, wenn auch nicht unmöglich. Die Gründe, warum die Menschen auch bei Kälte weiter draussen schlafen, sind vielfältig. Bei einigen steht eine psychische Krankheit im Vordergrund. Da kann man beim Draussen schlafen auch nicht mehr von freiwillig sprechen. Anderen wollen einfach ihre Ruhe, keine Nähe oder können und wollen sich nicht an Regeln halten.

Wie sprechen die Menschen eigentlich auf die Interventionen und Angebote an?
Die Menschen nehmen die Angebote im Grossen und Ganzen gut an. Aber es gibt auch jene, die unsere Hilfe nicht haben wollen.

Mussten Sie in diesem Jahr bereits Erfrierungen, Verletzungen oder gar Tote beklagen?
Nein, auch in den vergangenen Jahren nicht. Klar, Unterkühlungen und so weiter haben wir ab und zu. Aber die sind meist nicht wahnsinnig schlimm. Wir haben auch ein Bettflaschenverleihsystem, bei dem wir den Menschen Wärmeflaschen mitgeben, die ihnen Zusatzwärme geben.

Wie viele Obdachlose gibt es derzeit in Bern?
Heute weiss ich von 39 Menschen, die vornehmlich draussen schlafen. Und dann existiert noch eine Gruppe Roma. Von denen haben wir aber nicht die genaue Zahl. Das sind so um die zehn Personen. Ein neues Phänomen in Bern ist aber die sichtbare Bettelei. Auch dass Obdachlose in den Hauptgassen schlafen und sehr sichtbar sind, ist neu. Das sind aber meist Leute, die nur ein paar Tage da sind. Die kennen sich nicht so gut aus in der Stadt und wissen nicht, wo die guten Schlafplätze zu finden sind. Über Weihnachten nimmt die Zahl der Personen, die sich mit Betteln ein Zubrot verdienen, zu. Nach der Weihnachtszeit nimmt sie meist wieder ab.

Gibt es Weihnachtsfeiern für Menschen, die auf der Strasse leben?
Ja. Sie werden von sozialen, kirchlichen und karitativen Einrichtungen ausgerichtet. Aber auch Private machen einiges. Die meisten davon werden gut angenommen. Von den etablierten Organisationen, die sich auch das ganze Jahr um die Menschen auf der Strasse kümmern, werden die Veranstaltungen in der Regel etwas besser angenommen. Da wissen die Leute, woran sie sind.

Was ist Ihr schönstes, welches Ihr traurigstes Erlebnis?
Das Traurigste ist immer, wenn sehr junge Menschen, die man kennenlernt, auf der Gasse landen und mit Drogen beginnen und man versucht, diese Personen zu unterstützen, damit es nicht so weit kommt und dann leider feststellen muss, dass es nicht funktioniert hat. Das Schönste sind immer kleine Sachen: Wenn jemand, der lange auf der Strasse gelebt hat, wieder einen festen Wohnsitz hat, man diese Leute wiedertrifft und sie mit Stolz von ihrem neuen Leben erzählen.

Empfinden Sie Mitgefühl für die Betroffenen?
Ja, sicher. In unserer Arbeit lernst du die Lebensgeschichte dieser Menschen kennen. Sie haben Hoffnungen und Träume. Aber in der Arbeit konzentrieren wir uns darauf, die Situation mit dem, was vorhanden ist, zu verbessern.

Dennis Rhiel

Silvio Flückiger (50) arbeitet seit 17 Jahren bei Pinto in der Stadt Bern. In seiner Freizeit ist er mit seinen zwei Hunden viel in der Natur.

Pinto leistet im öffentlichen Raum der Stadt Bern aufsuchende soziale Arbeit und setzt sich für eine konfliktfreie Koexistenz aller Bevölkerungsgruppen ein. Im öffentlichen Raum fördern die Mitarbeitenden von Pinto Rücksichtnahme, Verständnis und Toleranz. Störendes Verhalten reduzieren sie mit verschiedenen sozial- und ordnungsdienstlichen Interventionen auf ein tolerierbares Mass. Die Mitarbeitenden sind von Montag bis Freitag von 9 bis 23 Uhr und Samstag von 16 bis 23 Uhr auf der Gasse präsent. Man erkennt sie an den roten Westen oder den roten T-Shirts.

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