Studiert es sich mit 68 etwa anders als mit Mitte 20? Senior-Studentin Antoinette Andrade sitzt voller Eifer im Hörsaal und erlebt an der Uni Bern viel Gemeinschaft.
Während an diesem heissen Tag die Studierenden der Uni Bern in den Bibliotheken an Seminararbeiten schreiben, kann sich Antoinette Andrade vor dem Hauptgebäude entspannt auf eine Bank neben die Statue von Einstein setzen. Ihre grauen Locken verraten es ein wenig: Andrade ist keine Durchschnittsstudentin. Seit drei Jahren ist sie bei der sogenannten Seniorenuniversität der Uni Bern dabei. Kein Prüfungsstress und keine Jagd nach Credit-Points, Andrade treibt nur ihre Neugierde in den Hörsaal: «Das ist das Tolle nach der Pensionierung. Man muss nicht mehr, man darf nur noch.»
Beruflich eingespannt
In jungen Jahren war sie beruflich neben der Familie sehr eingespannt, absolvierte in Genf ein Abendgymnasium: «Ich wollte damals studieren, merkte aber schnell: Das ist jetzt nichts für mich.» Doch der Wissensdurst liess niemals nach. In ihrer Familie standen Sport, Kultur und Literatur immer hoch im Kurs. «Kurz nach meiner Retraite war das eine gute Basis, mich neu zu organisieren und nicht in ein Loch zu fallen», erinnert sie sich. Als Antoinette Andrade dann in einer Buchhandlung das Programmheft der Seniorenuniversität in die Hände fiel, war ihr Enthusiasmus geweckt. Sie besuchte sofort einen der Vorträge. «Es hat mich gleich voll interessiert», erinnert sie sich mit leuchtenden Augen. Seitdem studiert sie sich quer durch akademische Gebiete wie Philosophie, Theologie, Geschichte oder Psychologie. Die Angebote der Seniorenuniversität gibt es an der Uni Bern seit 1983. Vorträge bietet die selbsttragende Stiftung jedes Semester an. Prüfungen und Diplome gibt es bei der speziellen Uni nicht. Einschreiben darf sich jeder, der über 60 bzw. pensioniert ist. Seit dem letzten Jahr existiert ein Mitgliederausweis. «Den darf ich betreuen», freut sich Andrade, die nicht nur teilnimmt, sondern auch bei der Organisation der Senioren-Uni hilft. Für die Vorlesungen holt diese Dozierende primär von der Uni Bern, aber ebenso von auswärts in den Hörsaal. Nach einer Stunde Vortrag werden Fragen gestellt und diskutiert. Im kommenden Semester lauschen Andrade und ihre Kommilitonen so beispielsweise Astrophysikerin Kathrin Altwegg, «Mr. Corona» Daniel Koch oder dem Theologen Martin Sallmann. «Besonders toll sind Emeritierte, denn sie bringen auch viel Lebenserfahrung mit», findet Andrade. Immer dienstags und freitags kommt sie im Herbstsemester an die Uni. Wenn Literatur oder Medizin auf dem Semesterplan stehen, schlägt ihr Herz höher. Selbst mit einem Status als Gasthörerin in französischer Literatur hatte sie schon geliebäugelt. Doch das werde wahrscheinlich zu viel: «Ich möchte meine Pension auch geniessen», lacht sie heute. Aber es geht nicht nur um Spass an Neuem: «Als ältere Menschen müssen wir uns mit mentaler Fitness auseinandersetzen. Wie bleibe ich kognitiv und nicht nur sportlich fit?», sagt Andrade, die solche Themen oft im Internet recherchiert. Bewegungsprogramme und Gedächtnistrainings ergänzen die Seniorenuni in diesem Feld. Dazu kommen Sonderveranstaltungen und Exkursionen. Andrade reiste schon in einer Kleingruppe fünf Tage nach Zernez GR. Mit einem emeritierten Geologie-Professor erwanderten sie dort den Nationalpark: «Eine wunderbare Erfahrung. Obwohl wir uns alle vorher nicht kannten, sind wir schnell zusammengewachsen. Wir haben mit dem Professor schon weitere Exkursionen geplant.» Sie sieht ein Zusammenspiel, das die Seniorenuni so beliebt macht: Neben der geistigen Inspiration gehört die Gemeinschaft dazu. Andrade hat hier viele Schulkameraden wiedergetroffen, die sie vierzig Jahre lang nicht gesehen hatte. Und sie konnte neue Menschen kennenlernen. «Soziale Kontakte sind fürs gesunde Altern besonders wichtig. Neue Freundschaften geben neue Impulse», sagt sie. Nach den Freitags-Vorlesungen trifft man sich hie und da zu einem Glas Wein, bei dem oft fleissig weiterdiskutiert wird
Lernen ist der richtige Weg
Antoinette Andrade ist überzeugt, dass dieses lebenslange Lernen der richtige Weg ist: «Wir können uns immer weiterentwickeln.» Es genügt ihr nicht, den Status quo beizubehalten – sie möchte aktiv an den Veränderungen in der Gesellschaft teilhaben. Sie hat dazu gar ein Zitat von Plutarch gefunden, das nicht besser auf ihre Lernbegeisterung und die Seniorenuni passen könnte: «Der Geist des Menschen ist nicht ein Gefäss, das gefüllt, sondern ein Feuer, das entfacht werden will.»
Michèle Graf