Der Berner hat 13 473 Velo-Kilometer zurückgelegt. Zurück in seiner Heimat, erzählt er von seinen Erlebnissen, beissenden Biestern und einer Angst, die grösser war als jene vor lauernden Gefahren.
Thomas Hodel sitzt bequem in einem Berner Café – anders als vergangene 279 Tage: Diese verbrachte er grösstenteils fahrend. In 738 Stunden radelte er von seiner Heimatstadt Bern aus nach Kirgistan, das zentralasiatische, gebirgige Land an der Seidenstrasse. Schon als Kind unternahm er Veloausflüge mit seinen Eltern; sie seien oft in der Natur unterwegs gewesen, was er damals eher als «Müssen» empfunden habe. Nicht so heute: Den Herzenswunsch, auf zwei Rädern die Welt zu «erfahren», hegte er schon länger, doch Corona verhinderte die geplante Abreise.
Er musste sich gedulden und begab sich derweil auf Velotouren durch die Schweiz. Am 14. März 2022 – just am 124. Geburtstag seines Lieblingsfussballvereins YB – war es so weit: Er liess den Zytglogge hinter sich, um mit seinem quietschgelben Drahtesel tausende Kilometer zurückzulegen. «Mich überkam ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit», erinnert er sich an den Augenblick, als er die Füsse auf die Pedale setzte. Die Route durch dreissig Länder auf drei Kontinenten, die ihn über Strassen, Schnee, Sand und Schotter strampeln liess, legte er lediglich «Handgelenk mal Pi» fest: «Ich plante die Etappen und die Unterkünfte für die Nacht jeweils einen Tag im Voraus», erzählt der 33-Jährige. «Wasser, Essen und Schlafplätze – mehr brauchte ich nicht, ich lebte aus zwei Taschen.»
Drei Leidenschaften vereint
Sein Antrieb sei gewesen, seine drei Leidenschaften in einem Abenteuer zu verbinden: Draussen sein, die Welt entdecken und fotografieren. Schon als 15-Jähriger hat er damit begonnen, seinen Lieblingsclub YB zu fotografieren: «Mit einer Kamera, die schlechtere Fotos produzierte als jedes Smartphone heute», erinnert er sich schmunzelnd.
Vor 20 Jahren gründete er die Website «YB forever», um seine gelb-schwarze Begeisterung zu zelebrieren – und mit einer wachsenden Community zu teilen. Heute dokumentieren über 15 000 Fotos von über 600 Spielen die triumphalen Momente der «Young Boys», darunter auch das legendäre Meisterbild 2018. Was als Hobby eines eingefleischten Fans begann, erblühte zu seinem Beruf: Seit Jahren fotografiert der Autodidakt offiziell für YB sowie für Bildagenturen, Medien und Firmen. So mag es erstaunen, dass er auf seiner Reise keine Highend-Kamera mitführte, um Impressionen festzuhalten; doch wollte er mit möglichst leichtem Gepäck reisen und die Bilder spontan via Fingertipp auf sein Smartphone schiessen, das am Lenker befestigt war.
3000 Fotos sind entstanden, wovon er eine kleine Auslese auf seinem eigens für die Entdeckungsfahrt eröffneten Instagram-Profil publizierte. «Vor der Abreise habe ich mir von einem 17-Jährigen zeigen lassen, wie das überhaupt geht», erzählt er lachend – im Alltag halte er Social Media für einen Zeitfresser. Schnappschüsse von Sehenswürdigkeiten sucht man in seiner Galerie vergeblich, schliesslich beabsichtige er, sich fernab von touristischen Pfaden fortzubewegen. So sei er zwar durch die Lagunenstadt Venedig geradelt, verzichtete aber auf Sightseeing: «Es ging mir um das Unterwegssein – um Begegnungen mit den Einheimischen und unverfälschte Einblicke in deren Lebensweisen».
«Der Mensch ist gut»
Er fiel auf und weckte Neugierde, allein unterwegs auf seinem leuchtenden «Eseli»: Wo auch immer er heranrollte, winkten ihm die Menschen lächelnd zu, schenkten ihm Proviant und empfingen ihn mit offenen Armen, so dass er sich in der Fremde nicht etwa einsam fühlte, sondern immer wieder geborgen. «Ich gewöhnte mir an, stets ein paar Grussworte in der jeweiligen Landessprache bereitzuhalten», berichtet Thomas Hodel. Das habe dazu beigetragen, das Eis zu brechen, Herzen zu öffnen – und Kontakte zu knüpfen, die teilweise bis heute bestehen.
«Es gab kaum Situationen, in denen ich mir ein Gespräch und deshalb Gesellschaft gewünscht hätte», resümiert er. Oft suchte er das Alleinsein und gönnte sich Ruhetage, an denen er nichts tat, «ausser regungslos auf dem Bett liegen». Die zahllosen Begegnungen empfindet er als Bereicherung, so lautet denn sein Fazit: «Ich bin überzeugt davon, dass 99,9 Prozent der Menschen gut sind. Die Welt ist besser, als wir sie aus den News kennen.»
Nicht Unbekannte haben ihm Angst eingeflösst, sondern abgerichtete Schutzhunde: «Mehrere beängstigende Angriffe in verlassenen Gegenden hätten mich fast zum Aufgeben gebracht, obwohl ich zum Glück nie gebissen wurde.» Zu schaffen machten ihm auch winzige, bissige Biester: Drei Mal befielen ihn Flöhe, sodass er all seine Siebensachen reinigen lassen und seine Kleidung auswechseln musste. «Abgesehen davon, war meine Reise perfekt, ich würde nichts anders machen», bilanziert er.
Seine grösste Angst
In Kirgistan angekommen, erreichte er nicht nur eine territoriale, sondern auch eine persönliche Grenze: Aus geopolitischen Gründen war die eigentlich geplante Einreise nach Tadschikistan nicht möglich, in der drückenden Hitze fühlte er sich krank. Der Berner beschloss, nach Lettland zu fliegen, den Norden zu durchstreifen, mit der Fähre nach Genua zu schippern – und schliesslich in das beschauliche Bern heimzukehren.
«Nach neun Monaten wieder zuhause zu sein, war schön, denn mich erwartete ein Leben, in das ich gerne zurückkomme», stellt er fest. Er wertschätze noch mehr, was er hat: Mehr als eine Pfanne zum Kochen, eine Wohnung mit Heizung, ein Leben in Sicherheit. «Natürlich verspürte ich unterwegs Angst – doch die Angst, meinen Traum nicht verwirklichen zu können, war mächtiger als jene vor dem Abenteuer selbst», sinniert er.
Daniela Dambach
Thomas Hodel (33) lebt und arbeitet als freischaffender Fotograf in Bern. Vor 20 Jahren lancierte er die Fan-Plattform «YB forever», die heute 15 000 von ihm kreierte Bilder umfasst. Auf seiner Veloreise 2022 durchquerte er 30 Länder und möchte nun mit seiner Story andere dazu inspirieren, ihre Träume umzusetzen.