Allein, hilflos, stumm: Die Dunkelziffer von Gewaltopfern in den eigenen vier Wänden ist hoch. Rhiana Spring hat mit ihrer NGO eine virtuelle Freundin namens Sophia entwickelt, die anonym zuhört und Rat weiss.
«Das erlebt doch jede Frau mal.» Als dieser Satz vor einigen Monaten in einer lockeren Runde unter Freundinnen von Rhiana Spring fiel, stockte der Menschenrechtsanwältin kurz der Atem. Gerade hatte sie von ihrem Projekt, dem Chatbot Sophia, der Hilfe bei häuslicher Gewalt bietet, erzählt, als eine der Freundinnen von ihrem manipulativen Ex berichtete. «Wir waren zu dieser Zeit schon befreundet, aber ich hatte nie etwas geahnt», erzählt die Unternehmerin, die sich glücklich schätzt, nie Gewalt in einer Beziehung erlebt zu haben.
Die Episode aus dem Freundeskreis illustriert treffend das Tabuthema mit hohen Dunkelziffern. Gemäss WHO erlebt jede dritte Frau weltweit physische und/oder sexuelle Gewalt. 2021 wurden in der Schweiz 19 341 Straftaten im häuslichen Bereich bei der Polizei registriert, 72 Prozent der Opfer sind weiblich. Die Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen, ist riesig. «Der erste Schritt ist erstmal, zuzugeben, dass es häusliche Gewalt ist. Die Person, die dir Gewalt antut, ist schliesslich meist die, die ich mir selbst ausgesucht habe und vielleicht noch liebe.»
Hinzu kommen in vielen Ländern sozialer und ökonomischer Druck: Eine Frau kann sich nicht einfach scheiden lassen ohne Kinder, Aufenthaltsbewilligung und das Umfeld zu verlieren. Spring kennt Zahlen, aber auch Schicksale: «60 Prozent suchen nie Hilfe, 90 Prozent der Betroffenen gehen nie zur Polizei. Seit der Gründung von Sophia habe ich viele Geschichten von Betroffenen erfahren.»
Sophia gibt es in 220 Ländern
Damit die Opfer, die oft im Stillen leiden, Hilfe erhalten können, hat Spring letzten Dezember Sophia lanciert. Sophia ist ein Chatbot mit künstlicher Intelligenz, mit dem betroffene Personen via Whatsapp oder online chatten können. Sie hinterlässt weder digitale Spuren noch sammelt sie die Daten ihrer User.
Doch wie kann eine digitale Freundin helfen? «Sie soll ein Zusatz zu schon bestehenden Angeboten sein. Die Hemmschwelle, mit ihr zu reden, ist niedriger als mit einem echten Menschen», erklärt Spring. Sophia klärt über Rechte und Möglichkeiten auf, sie hilft, die Situation einzuschätzen und Beweise zu sichern. So können Fotos von Verletzungen und Chatvorläufe in einem verschlüsselten digitalen Safe gespeichert werden. Ausserdem zeigt Sophia auf, was es braucht, um eine gewaltsame Beziehung zu verlassen und an welche Institutionen und Beratungsstellen sich die Opfer wenden können.
Schon 10 000 Menschen haben sich bisher mit Sophia unterhalten. «Sie ist 24 Stunden universell erreichbar und unauffälliger als ein Anruf bei einer Beratungsstelle. Das ist ein grosser Vorteil. In akuten Gefahren Hilfe rufen kann sie aber nicht. Dann braucht es die Polizei.»
In der Entwicklung des Chatbots hat die NGO Spring Act auch eng mit dem Dachverband aller Anlaufstellen für häusliche Gewalt in der Schweiz, der nationalen Koordinierung der Opferhilfe sowie ehemaligen Betroffenen zusammengearbeitet. Das Echo letzterer ist stets: «Hätten wir eine solche Hilfe doch schon früher gehabt.»
Einen Vorläufer von Sophia, der Menschen mit lokalen Beratungsstellen in Verbindung setzt, entwickelte Spring im Senegal, konnte dieses Wissen nun übertragen. Der Anstieg häuslicher Gewalt in der Pandemie war der endgültige Auslöser für Sophia. «Dass ein Chatbot 2022 als Innovation gilt, ist verwunderlich», sagt die Entwicklerin. Denn die Bots gibt es mittlerweile in der Wirtschaft sehr häufig, in der Opferhilfe hingegen nicht. Sophia ist in 220 Ländern erreichbar und spricht Englisch, Spanisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Quechua.
So polyglott wie Sophia ist auch ihre Erfinderin. Spring spricht fünf Sprachen, gerade lernt sie noch Suaheli. Eine soziale Ader habe sie schon immer gehabt, erinnert sie sich. «Als 12-Jährige ging ich an erste Demos und boykottierte Firmen.» Mit 17 gründete sie ihr erstes kleines IT-Unternehmen, studierte dann in London, Harvard und Oxford. Ihre Wohnung zieren Fotografien aus aller Welt, Diplome, Medaillen: «Ich habe diese Erinnerungen bewusst aufgehängt, auch als Inspiration. Manchmal vergessen wir unsere Erfolge zu schnell.»
Für die wissbegierige Weltenbummlerin gibt es nur eine Richtung: vorwärts. Ihr Bücherregal quillt über von Biografien starker Frauen wie Hillary Clinton, Malala Yousafzai; daneben juristische Fachbücher.
Fest davon überzeugt, die Welt zu verbessern
Als Diplomatin war sie auf den Philippen, arbeitete in einem Waisenhaus in Äthiopien, trainierte als UNO-Mitarbeiterin westafrikanische Regierungen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte, half, bei der Afrikanischen Union Richtlinien für die Einhaltung der Menschenrechte in Militäroperationen zu definieren. Nach 14 Jahren im Ausland ist Spring in ihre Heimat zurückgekehrt, mit einem, wie sie es nennt, ganzen «Rucksack an Erfahrungen». «Ich habe an der Basis als auch in der Diplomatie gearbeitet, das kommt mir jetzt zugute. Ich bin froh, jetzt gegründet zu haben und nicht mit 23 Jahren», resümiert die bodenständige Bernerin.
Sie hat ihren Optimismus, dass sich die Welt verbessern kann, nie verloren. «Durch das Verlassen meiner Komfortzone habe ich gelernt, meinen Horizont, ob persönlich, kulturell oder geschäftlich, zu erweitern. Ich begriff, dass meine eigene Kultur das Individuum in den Mittelpunkt stellt. In Afrika ist man eher gemeinschaftsorientiert. Es hängt also viel mehr daran, wenn dort eine Frau ihren Mann verlassen will.»
Die eurozentristische Sichtweise der Welt hat Spring abgelegt, setzt voll auf Diversität. «Wir können so viel mehr bewirken, wenn wir das Beste aus der Schweiz und beispielsweise aus dem Senegal nehmen und unsere Perspektiven hinterfragen.»
Über 80 Freiwillige aus Peru, Bulgarien bis zur Mongolei arbeiten inzwischen für den Chatbot; ein neunköpfiges Team konnte Spring festanstellen. Sie zahlt sich nur einen kleinen Lohn aus, in den ersten Jahren waren Zwölf-Stunden-Arbeitstage die Regel. «Wenn ich die Wahl habe, etwas mehr Geld für mich zu haben oder jemandem noch eine Stelle zu ermöglichen, kann ich mich nur für Letzteres entscheiden. Gerade konnte ich so meinen Praktikanten aus Nordnigeria, einen engagierten jungen Mann und Feministen, anstellen.»
Geld von Gates?
Nun soll Sophia wachsen und in möglichst alle Länder der Erde exportiert werden. Dem System eine neue Sprache beizubringen, ist dank der Programmierung und der Übersetzer relativ einfach. Sobald die relevanten Anlaufstellen gespeichert sind, kann Sophia loslegen.
Demnächst steht der Launch im Senegal an. «Sophia hat ein riesiges Potenzial», sagt Spring mit leuchtenden Augen. «Was wir brauchen, ist eine Finanzierung.» 150 Millionen von der Gates-Stiftung, das wäre Springs Traum, sagt sie im Scherz. Bisher ist das Budget tranchenweise zusammengekommen, über Innovationspreise, Crowdfunding, Werbeförderung und Stiftungen.
Nun wird Spring eine Fundraiserin anstellen. Schliesslich ist Sophia gefragt: «Organisationen in zehn Ländern warten bereits. Bisher haben die Menschen uns gefunden, jetzt werden wir aktiver sein.»
Mit Sophia chatten? www.sophia.chat
Michèle Graf