Gegenüber dem Wylerbad steht ein Haus mit Graffiti. Illegal sind diese nicht – im Gegenteil. Hier finden junge Menschen eine Oase der Ruhe, in der sie sich frei entfalten können.
Jedem, der mit dem Zug zum Hauptbahnhof fährt, ist es sicher schon einmal aufgefallen: das über und über mit Graffiti besprayte Haus an den Bahngleisen kurz vor Bern.
Graffiti sind an Gleisen und Mauern keine Seltenheit, oft ungewollt. An diesem Haus verhält es sich genau umgekehrt: Es soll besprayt sein, es darf besprayt sein, ja, es muss sogar besprayt sein, denn sonst würde der Name des Gebäudes keinen Sinn ergeben. Die Rede ist vom Jugendzentrum newgraffiti an der Scheibenstrasse 64.
In den grossen und hellen Räumlichkeiten warten Isa und Robert. Nachnamen haben die beiden zwar auch, «aber die spielen in der Jugendarbeit keine Rolle. Wir duzen uns hier.» Die beiden Jugendarbeiter begrüssen die Jugendlichen im Zentrum. Sofort fühlt man sich bei den beiden wohl und aufgehoben. «Das ist eines unserer grössten Anliegen: Wir wollen den Jugendlichen mit dem Zentrum einen Ort geben, an dem sie abschalten und sich selber sein können», sagt Isa.
Das Jugendzentrum newgraffiti ist ein offener Raum, in dem Vertrauen herrscht. «Die Jugendlichen können mit all ihren Anliegen zu uns kommen», meint Robert. «Wir sind für sie da und bieten unter anderem auch Beratungen und Begleitung an bei verschiedenen Anliegen wie zum Beispiel bei der Umsetzung von Events oder bei persönlichen Problemen.»
Mal richtig laut Musik hören
Dabei setzen die erfahrenen Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter auf das Prinzip «Augenhöhe»: «Wir bauen eine Beziehung zu den Jugendlichen auf. Das gibt ihnen Sicherheit. Dadurch fühlen sie sich angenommen, so wie sie sind. Entsprechend behandeln wir sie als gleichberechtigt – und dadurch sie auch uns.»
Wichtig ist den beiden zu betonen, dass sie kein festes Programm an den Öffnungszeiten vorgeben. «Wir bieten eine Infrastruktur, die vieles ermöglicht. Das, was die Jugendlichen damit machen wollen, bleibt ihnen überlassen.» So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, gemeinsam zu kochen, Tischtennis oder Videospiele zu spielen, sich mit anderen auszutauschen oder einfach auf einer der vielen gemütlichen Sitzecken zu chillen – und vieles mehr.
Auch die exklusive Lage an den Bahngleisen bietet einige Vorteile für die Jugendlichen, wie Isa erzählt: «Wenn sie wollen, können die Jugendlichen hier mal ihre Musik so richtig laut aufdrehen. Das stört keinen.» Wenn Isa von den Jugendlichen redet, meint sie damit junge Menschen im Alter von 12 bis 22 Jahren. Für sie ist das Jugendzentrum ein idealer Treffpunkt. Und falls sich jemand mal künstlerisch betätigen möchte, kann er dies an den freien und offenen Spraywänden auf dem Gelände des newgraffiti tun.
Bei allem steht Isa und Robert ein Team von Praktikantinnen und Praktikanten zur Seite. Sie geben Anregungen und Tipps und nehmen die Anliegen und Bedürfnisse der Jugendlichen wahr. «Dabei entsteht ein sehr enges Vertrauensverhältnis. Das, was wir hier machen, ist Beziehungspflege.»
Beziehungen, die manchmal sogar lange, nachdem die Jugendlichen das Zentrum nicht mehr besuchen, bestehen. «Letztens kam eine Gruppe vorbei, die uns seit rund vier Jahren nicht mehr besucht hat. Die haben sofort nach der Tischtennisplatte gefragt und wollten mal wieder spielen», lacht Isa. «Da war es direkt wieder wie früher.»
Das Angebot wird von den Jugendlichen rege und gern angenommen. «Wir haben quasi fast immer ‹Full House›», sagt Isa, die auch sogenannte «aufsuchende Arbeit» macht, also im Quartier direkt auf Jugendliche zugeht und diese anspricht. Dabei lernt man sich kennen und schätzen.
Angst, dass die bereitgestellten Gerätschaften kaputtgemacht werden oder es Ärger gibt, haben Isa und Robert nicht. «Der gegenseitige Respekt ist so gross, dass wir damit keine Probleme haben.» Und sollte es mal doch zu Meinungsverschiedenheiten kommen, lösen die Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter das im offenen Dialog. «Das klappt gut. Wir mussten während der vergangenen Jahre kein einziges Hausverbot aussprechen.» Sogar Jugendliche, die sich «draussen» nicht so grün sind, legen im newgraffiti ihre Streitigkeiten beiseite und feiern dort zusammen.
Neben dem Entspannungs-Aspekt bietet das newgfraffiti für die Jugendlichen auch ein Lernumfeld. Robert erklärt das so: «Dadurch, dass wir die Räumlichkeiten auch für Veranstaltungen anbieten, die die Jugendlichen selbst organisieren, erfahren sie direkt, was es bedeutet, einen Event auf die Beine zu stellen oder die Räume auch autonom zu nutzen.» Die Jugendlichen würden so zudem lernen, Verantwortung zu übernehmen.
Auch die Möglichkeiten, sich bei anderen Projekten einzubringen, sind gross. «Dabei ist alles niederschwellig angelegt. Es gibt bei unseren Projekten keine Anmeldeverfahren. Jede oder jeder kann mitmachen – oder eben nicht.» Die Projekte richten sich immer nach den Bedürfnissen der Jugendlichen. Während Corona wurde zum Beispiel das Projekt «Chillen statt stressen» ins Leben gerufen. Hier wird Jugendlichen beigebracht, wie sie mit stressigen Situationen im Alltag umgehen können.
Was gar nicht geht
In Ihrem Umgang mit den Jugendlichen sind Isa und Robert immer ruhig. «Unser Verhalten und unser Gemütszustand färben auf die Jugendlichen ab», sagt Isa. «Sie merken sofort, wenn etwas nicht stimmt.» Entsprechend versuchen die beiden, alles möglichst entspannt zu regeln. Zwei Dinge haben im Jugendzentrum allerdings gar keinen Platz: «Rassismus und Sexismus», sagen die beiden entschieden. Damit hätten sie aber auch nur in den allerseltensten Fällen Probleme.
Man merkt Isa und Robert ihr Herzblut für die Jugendarbeit an. «Ich persönlich habe eine grosse Leidenschaft für die Arbeit mit Menschen. Das war bei mir schon immer so», sagt Robert. «Ich kann das nur unterstreichen», sagt Isa und ergänzt, dass sie von den Jugendlichen selbst immer noch viel lernen könne.
Für die Zukunft der Jugendarbeit sind Isa und Robert optimistisch. «Es gibt viel zu tun und wir müssen aber auf unsere Ressourcen achten», sagen sie. Die Budgetgrösse für das Zentrum sei da so ein Thema. Wünschen würden sie sich etwas mehr Anerkennung für die Jugendarbeit allgemein, denn diese sei mit viel Arbeit und Engagement verbunden.
Dennis Rhiel
Das newgraffiti wird von der Jugendarbeit Bern Nord betreut. Als Trägerverein fungiert die offene Jugendarbeit der Stadt Bern (TOJ). Das Zentrum hat mittwochs von 14 bis 20 Uhr, freitags von 16 bis 21 Uhr und sonntags von 15 bis 19 Uhr geöffnet. In der Zwischenzeit finden oft Veranstaltungen statt. Das Haus verfügt über eine Küche, einen Tanzraum mit Bar, einen grossen Gemeinschaftsraum und einen Veranstaltungsraum. Weitere Informationen gibt es unter: toj.ch