Eva Gammenthaler von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern wurde während des Lockdowns zur Logistikerin. Viele ihrer Klientinnen und Klientinnen brauchten das Nötigste noch mehr als sonst.
«Wer vom Betteln – wir sagen Mischeln – lebt, hat gerade schlechte Karten», sagt Eva Gammenthaler. Die 33-jährige Bernerin hat Politikwissenschaften studiert und arbeitet seit drei Jahren bei der Gassenarbeit. Die Corona-Krise hat die Menschen mit Lebensmittelpunkt auf der Gasse besonders hart getroffen. Jene, die im Sexgewerbe oder in der Strassenmusik tätig sind, Suchtkranke oder Sans-Papiers – viele hätten ihre bereits vor dem Lockdown prekären Einnahmen von einem Tag auf den anderen verloren. «Die meisten sind in einem Bereich tätig, der vom Staat nicht abgedeckt wird», so Gammenthaler. Niederschwellige Hilfe, wie sie die Gassenarbeit (siehe Box) seit 1988 anbietet, sei da besonders wichtig. «Während des Lockdowns bin ich sozusagen von der Gassenarbeiterin zur Logistikerin geworden.» Sie und ihre beiden Mitarbeitenden konnten dank einer Spende der katholischen Kirche ihr Teilzeitpensum auf Vollzeit erhöhen.
Zweimal wöchentlich Essen
Das aggressive «Stay the fuck home» sei für einen Obdachlosen eine zynische Aufforderung. «Wohin gehen, wenn die Gasse, der öffentliche Raum, dein Zuhause ist?» Die Gassenarbeit stellte von einem Tag auf den anderen alles auf den Kopf, als bekannt wurde, dass ihr Büro in der Speichergasse nicht mehr offen sein durfte. «Wir haben das Angebot umstrukturiert, beschäftigen 15 Freiwillige, haben unsere Präsenz draussen erhöht und haben das Telefon auf unsere Handys umgeleitet, um möglichst gut erreichbar zu sein», erklärt Gammenthaler. Beratungsgespräche finden nun zwischen Tür und Angel statt. Zweimal wöchentlich verteilt die Gassenarbeit Lebensmittel, denn die Not ist gross und viele soziale Angebote in diesem Bereich mussten ebenfalls schliessen. Laut Gammenthaler sind sehr viele Leute vorbeigekommen, auch solche, die normalerweise nicht zum Zielpublikum gehörten. Darunter etwa Working Poor, die durch die Kurzarbeit in Not geraten sind oder alleinerziehende Mütter mit fünf Kindern, die nicht mehr in der Tagesschule essen konnten. «Corona hat viele Menschen an den Rand gedrängt.»
Viele Bussen
Bedürftig können Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen werden. Trotzdem stehen grosse Teile der Gesellschaft den sogenannten Randständigen mit Ablehnung gegenüber oder fürchten sich gar vor ihnen. Das habe mit Vorurteilen zu tun, meint Gammenthaler. «In den drei Jahren, in denen ich bei der Gassenarbeit tätig bin, habe ich noch nie eine Situation erlebt, in der ich Angst haben musste», sagt die Bernerin, die für die Alternative Linke im Stadtrat sitzt. Sie wünscht sich insgesamt mehr Akzeptanz für andere Lebensweisen. «Warum sollte jemand, der keinen festen Wohnsitz hat, kein Recht auf ein würdiges Leben haben?» Dass man während des Lockdowns alle Sitzbänke und um den Bahnhof abgeriegelt habe, sei für die Menschen auf der Gasse besonders schwierig gewesen. Viele seien ständig weggewiesen worden oder hätten Bussen bekommen, die manche nie würden bezahlen können. Von der Polizei hätte sich Gammenthaler mehr Augenmass gewünscht. «Die vielen oft unsichtbaren Menschen sind durch Corona plötzlich sehr sichtbar geworden.» Mit den Lockerungen habe sich die Situation ein wenig entspannt. Die Solidarität untereinander sei schon vor Corona gross gewesen. «Viele Leute auf der Gasse teilen, was sie besitzen. Sie wissen, wie es ist, nichts zu haben.»
Helen Lagger
Die Kirchliche Gassenarbeit
Anfangs der 80er-Jahre bildete sich aufgrund der Jugendunruhen eine kirchliche Arbeitsgruppe, die sich der Gassenarbeit widmete. Daraus entstand eine Jugendkommission, die sich vor allem um die grassierende Drogenproblematik kümmerte. 1988 wurde der Verein für Kirchliche Gassenarbeit Bern (KGB) gegründet. Die Grundsätze des KGBs sind «Akzeptanz, Freiwilligkeit, Niederschwelligkeit und Parteilichkeit». Geleistet wird sowohl aufsuchende wie stationäre Sozialarbeit. Die Dienstleistungen sind für Betroffene kostenlos und können anonym genutzt werden. Der Verein ist behördenunabhängig und arbeitet vertraulich.