Erhalten statt erneuern: Münsterbaumeisterin Annette Loeffel und ihr Team sorgen dafür, dass Berns Wahrzeichen für die nächsten Generationen bewahrt wird.
Im Moment sieht er bemitleidenswert aus: Einer der Wasserspeier am Dachrand des Berner Münsters trägt eine dicke Halskrause. Angesichts des leicht gehandicapten Steintieres muss Annette Loeffel lachen. «Ja, die Figur ist so eingepackt, damit wir nicht eine Dusche bekommen, wenn wir durch die Tür darunter die Baustelle betreten», erklärt die Münsterbaumeisterin. Gerade ist sie die Stufen des Gerüsts an der Südseite hinaufgestiegen und geniesst die Aussicht auf die Aare. Die Architektin verharrt nur kurz, zu faszinierend ist hier die Fassade mit den verzierten Strebebögen, steil ragt der Westturm auf. Als Münsterbaumeisterin plant und leitet Loeffel die Bauarbeiten am Münster, führt aber auch regelmässig Gruppen durch die Berner Ikone und auf den Turm. Wie oft sie dabei die über 250 Stufen hinaufgestiegen ist, hat sie nie gezählt. «Wenn wir bauen, gibts einen Lift, das ist natürlich praktisch.» Die Erhaltungsmassnahmen sind immer im Gange, auch heute ist der Turm eingerüstet. «Würde irgendwann kein Gerüst mehr am Münster stehen, wäre das tragisch. Das bedeutete nämlich, man würde sich nicht mehr um den Unterhalt kümmern.» Dank einer effizienteren Arbeitsweise können die Turmbaustellen heute aber schneller zügeln.
Bern, das Steinmetz-Mekka
Mehrmals die Woche ist Loeffel vor Ort, seit gut 20 Jahren arbeitet sie mit der Münsterbauhütte. «Es war noch keinen Tag langweilig», sagt sie und geht ins Innere. Wo sonst 16 Steinme daillons des Mittelschiffgewölbes einsam in 21 Metern Höhe hängen, steht man nun direkt darunter auf einem hölzernen Zwischenboden. Seit 2019 laufen Reinigungs- und Restaurierungsarbeiten. 450 Jahren hielten die Schlusssteine tadellos bis die Farbe abzublättern begann. «Ihre Garantie ist abgelaufen», scherzt Loeffel. Sie schätzt die Ausdauer und Expertise ihrer Mitarbeitenden und zeigt ein Latexschwämmchen. Damit werden Zentimeter um Zentimeter die Flächen zwischen den Ornamenten geputzt. «Eine mühsame Kleinstarbeit. Ich hätte nie die Geduld dazu.» Dennoch legt sie manchmal auf der Baustelle selbst Hand an, um «ein Gefühl für die Arbeiten zu bekommen». Als sie noch Praktikantin war, tobte hier ein Disput: austauschen gegen ausbessern. Während man über Jahrhunderte am Münster immer weitergebaut und alte Substanz gegen helle neue Steine ausgetauscht hatte, ging Münsterbaumeister Hermann Häberli dazu über, das Alte zu erhalten. «Das ist ökologischer und ökonomischer», erklärt Loeffel. «Und wir bewahren den Bestand, anstatt hinterher eine nachgebaute Kirche zu haben.» Während früher Steinmetze aus Wut darüber Loeffel schon mal das Werkzeug vor die Füsse warfen, sind sie jetzt mit Herzblut dabei und wahre Meister im Konservieren geworden. Und die Berner Methoden gewinnen europaweit Fans. «Münsterbaumeister kommen hierher, um unsere Techniken zu lernen. Wir tauschen unser Wissen aus. Im Vergleich mit anderen gotischen Kirchen steht unser Münster sehr gut da. Wir sind innovativ. Vor 20 Jahren wurden wir belächelt und heute heisst es, wer Steinrestaurierung lernen will, der muss nach Bern.»
Dicke Staubschichten
Während sie von Statik, Farben und Glasfenstern redet, merkt man der Architektin schnell an, wie sehr ihr das Münster ans Herz gewachsen ist. Ganz Déformation professionelle kann sie hier nicht im Konzert sitzen, ohne gleichzeitig das Mauerwerk zu untersuchen. «Dann schaue ich und denke, dass wir den oder den Stein im Gewölbe wohl restaurieren müssen», lacht sie. Loeffel kennt sich nicht nur mit modernen Methoden aus, sie studiert und bewundert auch, wie im Mittelalter gebaut wurde. «Sehr rational und erstaunlich schnell.» So wurden beispielsweise für die Ornamente gelöcherte Schablonen verwendet, angebracht mit kleinen Zimmermannsnägeln. «Einige Nägel finden wir heute oft wieder. Bei aller Planung wurde aber auch oft mal geschludert», sagt sie und deutet auf eine auf eine auffällig weisse Stelle im Chorgewölbe. «Da haben wir nicht zu stark gereinigt, sondern ein mittelalterlicher Maler hat wohl Farbe verschüttet und es schnell weiss übermalt.» An den 86 Schlussstein-Figuren im Chor fanden sie und ihre Kolleginnen Pinselhaare und Fingerabdrücke. «Als ob Niklaus Manuel gerade erst den Pinsel weggelegt hätte.» Es war eine kleine Sensation, als man herausfand, dass sich unter der dicken Staubschicht alle Figuren in Originalfarben verbargen. Zurück in die Gegenwart: 2024 soll die Restaurierung im Mittelschiff abgeschlossen sein. Bis dahin gibt es für die Münsterbaumeisterin und ihr Team viel zu tun. Probleme damit, sich in dieser Position als erste Frau durchzusetzen, hatte Loeffel selten. Ihren Job habe sie durch Hartnäckigkeit, Fleiss und Kompetenz bekommen, viele Jahre war sie Häberlis Stellvertreterin. «Ich hatte eine lange Probezeit», resümiert sie mit gewitztem Lächeln. Sie saniert sowohl Schlösser als auch einfache Privatbauten, das Münster wird aber ihr Hauptmandat bleiben: «Die Berner können auf ihr Münster stolz sein.»
Michèle Graf