Im freien Fall fühlt sich Jenna Gygi wie ein Vogel. Die erfahrene Wingsuit-Pilotin verrät, was sie am Extremsport fasziniert und warum sie auch zuweilen gut ohne Action auskommt.
Wenn die Bernerin Jenna Gygi von den Momenten erzählt, in denen sie mit ihrem Wingsuit fliegt, leuchten ihre hellblauen Augen noch heller. «Dann bin ich wie ein Vogel, steuere selbst, bin absolut frei. Die Natur, die Felswand, die Luft – alles nehme ich intensiver wahr.» Seit über einem Jahrzehnt ist sie Fallschirmspringerin, seit zehn Jahren hat sie sich auf den Wingsuit, zu Deutsch Flügelanzug, spezialisiert.
Über 3800 Sprünge liegen mittlerweile hinter Gygi, doch die Faszination hält an. «Schon als kleines Mädchen begeisterten mich Vögel und Helikopter. Und mein Freiheitsbedürfnis war immer gross. Doch vom Fallschirmspringen wusste ich lange nichts.» Zu ihrem ersten Tandemfallschirmsprung kam sie dann mit 21 Jahren recht zufällig. Ihr Nachbar nahm sie eines Tages zum Flugplatz mit. «Ich hatte keinen Plan, was auf mich zukommt, war einfach offen. Nach dem Sprung war ich schlichtweg begeistert.» Durch diese Erfahrung fand Gygi zu ihrer Leidenschaft, machte in Windeseile die Fallschirmlizenz. Nach 200 «normalen» Sprüngen durfte sie die Weiterbildung mit dem Wingsuit beginnen. «Der Sport gibt mir so viel», schwärmt sie. «Ich kann am Morgen mit schlechter Laune aufstehen, fahre irgendwo hin, mache einen Sprung und bin danach der glücklichste Mensch. Funktioniert absolut immer.»
Lieblingsorte für einen Sprung hat sie kaum. «Lauterbrunnen ist natürlich das Mekka, auch in Walenstadt oder im Wallis gibt es tolle Möglichkeiten», sagt sie. Den Sommer verbringt sie in der Schweiz, liebt die Berglandschaften, in Spanien oder Dubai überwintert sie gerne. Besonders im Gedächtnis geblieben sind ihr spektakuläre Landschaften wie bei Moab in Utah oder die Malediven. Derzeit träumt Gygi von Sprüngen in Norwegen und den Dolomiten.
Nicht aufgeregt, aber positiv gespannt, manchmal auch nervös: So beschreibt sie ihr Kribbeln vor dem Absprung. «Diese Gefühle sind wichtig, dann spüre ich, dass ich mental parat, im Moment, bin.» Weder rückwärtsgewandt noch zu sehr in die Zukunft zu denken, sondern einfach glücklich im Jetzt zu sein, das habe sie ihr Sport gelehrt.
Verletzt hat sich die Pilotin noch nie. Selbst ihre Eltern sind mittlerweile cool mit dem Beruf ihrer Tochter. «Sie waren natürlich anfangs skeptisch, aber sie wissen, was mir der Sport bedeutet. Meine Mama rufe ich heute noch vor und nach Sprüngen an. Alles gut, ich bin sicher gelandet.» Hat die mutige Frau denn überhaupt Ängste? «In der Luft nicht. Ich fürchte mich vielmehr vor Rückenproblemen oder davor, mich im Alltag so verletzen, dass ich nie mehr springen könnte.» Ohne Freiheit geht es eben nicht, ein Leben mit Bürojob kann sich Gygi nicht vorstellen. Sie mag die Abwechslung. «Morgen gehe ich einen Sprung für einen Sponsor mit Videoaufnahmen machen, übermorgen gebe ich ein Coaching auf einem Flugplatz», zählt sie ihre nächsten Termine auf. Einsteiger:innen, aber auch Profis, die schon hunderte Sprünge hinter sich haben, gehen bei ihr in die Lehre.
Einzig wenn man ihren Sport als lebensmüde und die Menschen, die ihn ausüben, als gefährliche Adrenalinjunkies bezeichnet, wird Gygi ärgerlich. Sie erklärt: «Es steckt viel mehr dahinter, als einfach mal von einem Berg zu springen und zu schauen, was passiert. Auch wenn es eine Extremsportart ist, kann man das Basejumpen sehr sicher machen. Gerade in den Bergen fliege ich konservativ, springe nie ohne Reserve.» Klar, ein Restrisiko bleibe trotz guter Vorbereitung immer. Aber waghalsige Videos mit Flügen durch Felslöcher werde es von ihr nie geben, sagt Gygi bestimmt. Sie wählt Absprungstellen aus, die ihrem Können entsprechen. «Mein Umfeld und ich, wir springen aus Freude und wollen das auch noch möglichst oft tun. Deshalb sind wir verantwortungsbewusst.»
In neuen Umgebungen lässt die Bernerin sich von Ortskundigen begleiten. Sie vertraut auf ihr Bauchgefühl. «Ich bin ehrlich zu mir selbst und sage den Leuten dann ‹Hey, dieses Niveau ist mir heute zu fortgeschritten› oder ‹Der Wind ist zu stark›. Im Zweifel kehre ich um.» Lebenslanges Lernen ist ihr wichtig, viele Stunden verbringt sie auch im Windtunnel. In der Szene ist sie voll etabliert. Noch ist das Wingsuit-Fliegen und Basejumpen eine Männerdomäne. «Aber beim Fallschirmspringen hat es sich schon sehr gewandelt, da ist der Frauenanteil hoch. Ich schätze 30 Prozent.»
Mit Sponsorenunterstützung und Coachings kann Gygi von ihrem Sport leben. Sie wirkt auch bei Filmdrehs mit und nimmt an internationalen Wettbewerben teil. Die Bernerin ist Weltmeisterin und stellte 2020 einen Weltrekord in Wingsuit-Akrobatik auf. Absprungort dafür ist das Flugzeug. «Man muss Figuren zeigen und sie kombinieren», erklärt Gygi diese Disziplin. Zuvor übt sie am Boden. «Ich laufe die Figuren ab, so dass ich in der Luft nicht mehr überlegen muss, welche als nächste kommt.» Mit dem Wingsuit kann Gygi sich bei Tempo 150 richtig auf die Luft legen, bis zu drei Minuten Freifall geniessen. Bei einem normalen Fallschirmsprung sind es etwa 45 Sekunden.
Ist sie traurig, wenn sie die Reissleine ziehen muss, da der Boden nah gekommen ist? «Nein, ich mag es auch am Schirm zu hängen. Vom Absprung bis zur Landung ist alles für mich sensationell.» Bis dahin ist es oft ein weiter Weg, nicht immer gibt es eine Seilbahn. Im Gebirge wandert Gygi mit acht Kilo Ausrüstung bis zur Absprungstelle. «Wenn ich einen hohen Sprung machen will, bin ich oft vier Stunden unterwegs.»
Findet es die actiongeladene Frau im gemütlichen Bern nicht langweilig? Gygi lacht: «Nein, ich komme auch gut einige Tage ohne Action aus. Ich finde es genauso schön, mit meinen Eltern zu wandern, mit dem Hund zu laufen oder zu brunchen.» Es ist eben die Balance zwischen Action und Bodenständigkeit, die Gygis Leben ausmacht.
Michèle Graf
Jenna Gygi (32) stammt aus Bern und ist gelernte Kommunikationsplanerin. Seit über zehn Jahren arbeitet sie als professionelle Wingsuit-Pilotin. Daneben mag sie Musik, Fussball und Klettern.