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Vom Gefängnis zu einer menschenwürdigen Behandlung

Das Psychiatrie-Museum befndet sich auf dem Areal der UPD, der Universitären Psychiatrischen Dienste. Museumsleiter Andreas Altorfer heisst uns in seinem faszinierenden Arbeitsumfeld willkommen. Und erzählt, wie man geistig Kranke einst «geheilt» hat.

Wir betreten das schmucke Gebäude im bernischen Spätbarock. Das Blatter- und Pfründerhaus, wie es anfänglich hiess, diente bis Ende des 19. Jahrhunderts der Unterkunft von Hautkranken und Pfründern (Alterspatienten). Danach beherbergte das Pfründerhaus bis 1980 Kranke der «Nervenheilanstalt Waldau». Seit 1993 sind im Gebäude das Sammlungsarchiv und das Psychiatrie-Museum untergebracht. Geleitet wird das Museum seit 2003 vom Psychologen und Musiker Andreas Altorfer. Bei einem Rundgang durchs Museum begegnet der Besucher Modellen früherer Behandlungsmethoden wie Deckelbad, Zwangsjacken, Gurten, Fluchtobjekte und Anstaltsdokumente. In einem anderen Raum fnden sich Zeichnungen, Schriften und kunstvoll bemalte Schränke des Komponisten und Schriftstellers Adolf Wölfi, der von 1895 bis 1930 als «Geisteskranker» in der Waldau lebte.

Eine halbe Million Hirnschnitte
Adolf Wölfi war wohl der berühmteste Patient der Klinik, er darf ohne weiteres als künstlerischer Schwerstarbeiter bezeichnet werden, hinterliess er doch etwa 25 000 Zeichnungen, kombiniert mit Schriften und Musiknoten. Der Psychiater Walter Morgenthaler begleitete ihn als seinen Schützling und sammelte neben den Werken Wölfis 5000 Zeichnungen und 300 Objekte von Menschen in seinem Umfeld der damaligen Waldau. Letztere befnden sich in den Archivräumen des Museums. Wie sieht es heute aus, werden Zeichnungen späterer Patienten auch gesammelt und ausgestellt? Dazu Andreas Altorfer: «Ja, seit die Kunsttherapie eingeführt wurde, hat sich die Sammlung um etwa 10 000 Zeichnungen erweitert.» Nicht wenige Patienten hätten ihre Werke im Nachlass dem Museum vermacht. «Leider können wir aus Platzgründen nicht alle Zeichnungen dem Publikum zugänglich machen», bedauert der Museumsleiter. «Auch beherbergen wir beispielsweise eine Hirnschnittsammlung von 2500 getätigten Sektionen, das ergibt fast eine halbe Million Hirnschnitte, die müssen irgendwo aufbewahrt und unterhalten werden.» Im Museum werden zurzeit zirka 200 Gegenstände präsentiert, in den regelmässigen Wechselausstellungen jeweils 80 bis 100. Im PROGR, dem ehemaligen Schulhaus am Waisenhausplatz, hat das Museum in einem Klassenzimmer einen zusätzlichen Raum, wo jährlich drei Ausstellungen von Prof-Künstlern und künstlerisch tätigen ehemaligen Patientinnen und Patienten stattfnden. «Diese Künstler widmen sich bestimmten Themen, so hatten wir beispielsweise Ausstellungen zur Migration und zur Alzheimer-Erkrankung», weiss Altorfer zu berichten. Welche Hauptbotschaft möchte das Museum den Besuchenden vermitteln? «Wir streben grundsätzlich eine Entstigmatisierung der Psychiatriegeschichte an. Durch unsere Arbeit möchten wir die Botschaft rüberbringen: ‹Weg vom Gefängnis hin zu einer menschenwürdigen Behandlung auf Augenhöhe›.» Moderne Museen kommen heute nicht darum herum, das Publikum auch aktiv in die Ausstellung zu integrieren. Die Interaktivität macht auch vor dem Psychiatrie-Museum nicht halt, auch wenn sie sich zurzeit noch in Grenzen bewege, schmunzelt Andreas Altorfer. So wird die Ausstellung gegenwärtig erweitert durch Angebote wie Hirnanatomie, Psychopharmaka und neue Psychiatriekonzepte. Es sei beispielsweise möglich, dass die Besucher durch ein Mikroskop Hirnschnitte betrachten können, aber auch Audio-Präsentationen und eine Audioguide-App auf dem Handy würden künftig das Museum erlebbarer machen, blickt der Museumsleiter in die nahe Zukunft. In «normalen» Jahren bevölkern jährlich etwa 1800 Besuchende das Museum an der Bolligenstrasse, «etwa so viele wie in einer einzigen Museumsnacht», ergänzt Andreas Altorfer.

Foltermethoden sind zum Glück längst passé
Altorfer – ganz Fachmann – äussert sich auch zu Fragen heutiger Therapiemethoden. Ab 1952 haben die Psychopharmaka die Foltermethoden – wie beispielsweise die Zwangsjacken – abgelöst. «Anfänglich wurden die Medikamente noch zu hoch dosiert, die Patienten zitterten», erinnert sich Andreas Altorfer. Heute habe jeder Patient eine individuelle Dosierung mit möglichst wenig Nebenwirkungen. Indes, Fixierungen mit geeignetem Gurtsystem am Bett oder Isolationen seien in Schwerstfällen immer noch unumgänglich, allerdings unter kontinuierlicher Überwachung. Die Bettenzahl der Kliniken habe sich massiv verringert. Heute gebe es in der Erwachsenenpsychiatrie gerade mal noch 270 Betten, früher waren es Tausende. «Früher steckte man die Schizophrenen einfach in die Anstalt», erzählt Andreas Altorfer. Diese Betten würden heute nur noch zwei bis drei Wochen belegt. Die meisten psychischen Erkrankungen liessen sich heute zum Glück ambulant behandeln. Ziel der Behandlung sei, dass die Patienten ausserhalb der Klinik ihr Leben verbringen könnten, zum Beispiel in betreuten Wohngemeinschaften. «Hier stossen wir aber an Grenzen im sozialen System», sinniert der Museumsleiter.

Peter Widmer

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