Trotz Uniabschlüssen im Gepäck musste sich Nanthini Murugaverl nach ihrer Ankunft in der Schweiz ein komplett neues Leben aufbauen. Nach über 20 Jahren in Bern hilft die Tamilin heute erfolgreich Migrantinnen und Migranten und fühlt sich mit ihrer Familie heimisch.
«Informationen!» Für Nanthini Murugaverl dreht sich in ihrem Berufsalltag fast alles um dieses Zauberwort. Denn nur wer über Informationen und Bildung verfügt, hat die Chance, seine neue Umgebung zu verstehen und teilzuhaben. Ob es um das Ausfüllen von Formularen, die Jobsuche oder den komplizierten Lehrplan 21 geht: Die Tamilin, die im Jahr 2000 als Flüchtling aus Sri Lanka in die Schweiz emigrierte, hilft weiter. Wöchentlich berät sie in der Sprechstunde «Infotime» in Bethlehem in ihrer Muttersprache ein Dutzend Menschen. Ihren Wissensschatz rund um das Leben in der Schweiz mit all seinen Eigenheiten erweitert sie ständig und gibt die Infos weiter. Dabei geht es der studierten interkulturellen Übersetzerin um mehr als blosse Fakten, denn die Menschen bringen auch ihre Sorgen mit. «Neulich sass ein Vater vor mir, der sich sorgte, dass seine Tochter bald ohne Lehrstelle dastehen könnte. Er verstand nicht, warum die Zusage der potenziellen Arbeitgeber so lange auf sich warten liess. Die ganze Familie war unruhig und enttäuscht.» Die Beraterin konnte vermitteln, telefonierte mit BIZ und Lehrbetrieb. Kurze Zeit später klärte sich auf: Der Vertrag ist schon unterwegs.
Die Sache mit der Schulreise
Nanthini Murugaverl kann die Fragen ihrer Landsleute, besonders der Frauen, gut nachvollziehen. Als sie als Asylsuchende in der Schweiz kam, staunte sie nicht nur über den Schnee und das Essen. Sie merkte schnell: Ohne Bildung gehts nicht. «Ich kannte ausser meiner Schweizer Sozialarbeiterin nur wenige Leute und verstand die Sprache nicht. Aber ich brauchte viele Informationen über alles Mögliche.» Rasch lernte Murugaverl Deutsch, aber auch, wie das hier mit der Ghüderentsorgung, Steuererklärung oder Schweizer Arbeitsmoral funktioniert. In dieser Zeit kam sie mit ihrem späteren Ehemann zusammen, das Paar hat heute zwei Kinder. Durch Spielgruppen und Kindergarten wuchs die junge Mutter in die Quartierarbeit hinein. Der Wunsch, das, was sie erfahren hatte, weiterzugeben, war sofort da. Murugaverl erinnert sich: «Anfangs verstand ich das Schulsystem nicht. Ich wusste auch nicht, dass es normal ist, die Kinder auf eine Schulreise zu schicken. Heute kann ich in der Beratung besorgte Eltern beruhigen und vermittle ihnen, dass die Kinder dort viel lernen können.» Erzählt Murugaverl von solch gelungenen Momenten, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus, in flüssigem Hochdeutsch mit tamilischem Akzent. Ihre Mischung aus gewinnendem Lächeln, Empathie und Kompetenz ist bestechend. So ist sie in Bern West seit 2006 vielerorts für «ihre Leute», die tamilische Gemeinschaft, engagiert: berät ältere Menschen, übersetzt, organisiert Frauenrunden und Angebote für Mütter, unterrichtet in der tamilischen Schule, informiert auf Berufsmessen. Besonders gelungen findet sie einen Kurs für neue Immigrantinnen, der Deutschlernen mit Alltagsorientierung verbindet. Denn vor einem richtigen Sprachkurs helfe es enorm, erstmal auf Tamilisch zu erfahren, was dieser Dativ und Akkusativ sei. «In unserer Sprache gibt es acht Fälle, in Deutsch nur vier. Ich erkläre das also vergleichend.»
Fahrdienst morgens um zwei
Wenn Murugaverl für eine Sache brennt, ist sie so schnell nicht mehr davon abzubringen, fragt sich durch, bis sie an der richtigen Stelle angelangt ist. «Mein Vater war Sozialarbeiter. Er hat meinen Schwestern und mir beigebracht, dass man helfen soll, wo man kann.» So studiert sie bis heute nicht lange an Problemen herum, sucht stets eine handfeste Lösung. Und wenn es um zwei Uhr nachts sein muss. «Neulich rief mich eine Schwangere an, die noch nicht lange und alleine in der Schweiz war. Sie lag in den Wehen und wollte mich bei der Geburt im Spital dabei haben.» Murugaverl, sofort hellwach, machte sich gleich auf und ihre Tochter übernahm den Fahrdienst. Sie ist glücklich, ihren Kindern ihre soziale Ader vererbt zu haben und von ihrer Familie so viel Rückendeckung zu erfahren. «Mein Mann hat mich immer unterstützt. Er ermutigte mich, an mein Diplom in Business Administration und den Abschluss als Mittelschullehrerin anzuknüpfen.» Ihre Teenager gehen inzwischen aufs Gymnasium, haben auf der HSK-Schule auch Tamilisch gelernt. Sie fühlen sich in beiden Kulturen zuhause, sind über die Brücken gegangen, die ihre Mutter mit ihrer Offenheit baute. Murugaverl selbst hat sich ein riesiges Netzwerk und enge Freundschaften aufgebaut. Auch zu Schweizern. «Stephanie Schär, die Leiterin des Treffpunkts Untermatt, in dem ich heute berate, ist wie eine Schwester für mich. Wir Sozialarbeiter sind eine Familie.» Ihren Job will sie so noch lange weitermachen: Die Menschen liegen ihr eben einfach am Herzen.
Michèle Graf