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Wenn der Brief vom Amt eine Hürde ist

Sie helfen bei der Integration: Die Freiwilligen des Infopoint Yalla! helfen, die grossen und kleinen Hindernisse im Schweizer Alltag zu überwinden. Auf Augenhöhe und in mehr als sechs Sprachen.

Wer in die Schweiz migriert, findet schnell Sprachkurse, Informationen zu Behörden und Anmeldungen. Aber wie lassen sich Schreiben von Versicherungen verstehen, wie funktioniert das Steuersystem, was hilft bei der Wohnungssuche und wie sieht ein aussagekräftiges Bewerbungsdossier aus? Solche und ähnliche Fragen treiben die Ratsuchenden beim Infopoint Yalla! in Liebefeld um. Er füllt mit seinem Angebot eine Lücke, denn für Alltagshürden gibt es in vielen Fällen zuständigen Stellen: «Es tönt einfach, aber Alltagsprobleme können die Integration erschweren. Diese Vermittlung von Systemwissen ist bei keiner Stelle vollumfänglich angegliedert», erläutert Ruth Yosief, eine der Mitgründe­rinnen des Infopoints. In vielen Familien müssen dann die Kinder aufgrund ihrer Deutschkenntnisse Aufgaben übernehmen und Übersetzungsarbeit leisten. Eine Bürde, zumal jüngere Menschen noch nicht in allen Dingen kompetent sind und Verantwortung übernehmen können. «Unser Angebot schafft Entlastung. Kinder sollen Kinder sein.» Yosief weiss, wovon sie spricht. Als Tochter eritreischer Eltern leistete sie in ihrer Jugend viel Unterstützung, beantwortete gerne Telefone und Briefe. Auch der multikulturell aufgewachsene Sozialarbeiter Andrea Luca Aebischer bemerkte in seinem Job den Bedarf an Systemwissen über die Schweiz. Zusammen mit Freunden entstand so die Idee zum Infopoint Yalla! Ressourcen bündeln, Wissen allen zugänglich machen, neutral sein. «Wir kennen teils aus eigener Erfahrung die Integrationshindernisse und wollen einfach unterstützen. Deshalb starteten wir 2022 mit dem Infopoint Yalla!», so Aebischer.

Seitdem wird jeden Freitag zwischen 14 und 17 Uhr in Liebefeld eine offene Beratung angeboten. Kostenlos und niederschwellig. Vom Teenager bis hin zu Pensionären, Migrantinnen und Schweizern kommen alle. Die Mund-zu-Mund-Propaganda sorgt für reichlich Zulauf. Wichtig ist dem Infopoint die Chancengleichheit, Beteiligung und die Hilfe zur Selbsthilfe. Auch Familiennachzug, Aufenthaltsbewilligungen und Härtefallgesuche sind hier Themen. Manche Hürden sind hoch, andere sind leichter zu überwinden. «Einige Ratsuchende wissen schon, welche Institutionen sie aufsuchen müssten, doch die Terminvereinbarung überfordert sie», nennt Aebischer ein Beispiel. In solchen Fällen nimmt das Team das Telefon in die Hand, klärt die Voraussetzungen und Daten ab. Erläutert wird dann alles in der Muttersprache der Ratsuchenden.
Aebischer berät auf Deutsch und in Englisch. Dank Übersetzungsapps und Händen und Füssen auch in anderen Sprachen. Und Yosief bringt das eritreische Tigrinya mit. Ausserdem gibt es Gespräche auf Tamilisch, Arabisch und Französisch.

An ihre Grenzen kommen die neun Beratenden bei Fachfragen und Rechtlichem. «Wir sind keine Fachstelle, sondern lesen uns die Kenntnisse dann auch an. Oft können wir da nur vorbereiten und vermitteln», so Yosief, die Apothekerin ist. Aebischer berichtet über einen Fall, in dem er das rechtliche Problem zwar nicht lösen konnte, aber eine Stelle für Rechtshilfe fand und Administratives erledigte, um so die Anwaltskosten tief zu halten. «Durch unsere Ausbildungen bringen wir Fachwissen mit, im Gespräch sind wir aber einfach die helfenden Hände», so der Sozialarbeiter, dem die Menschen oft Persönliches anvertrauen.
Besonders blieb ihm ein Ratsuchender im Gedächtnis, der in der Schweiz schnell auf eigenen Beinen stand und einen Job fand. «Doch aufgrund eines Missverständnisses hatte er es geschafft, bei zwei Krankenversicherungen gleichzeitig versichert zu sein. Das ist in der Schweiz so gut wie unmöglich.» Aebischer konnte den Fehler in den Papieren finden, gezahlte Beiträge zurückholen und alles umschreiben lassen. Für ihn ein aussagekräftiges Beispiel, denn: «Integriert sein bedeutet mehr als hier zu arbeiten und die Sprache zu können, das Systemwissen gehört genauso dazu.» Er nennt das nachhaltige Inte­gration, sie geschieht nicht nur auf dem Papier. Yosief stimmt zu: «Wer diese Basics kennt, hat bessere Chancen, am sozialen Leben teilzunehmen.» Über 100 Mal hat Yalla seit der Gründung beraten. «An manchem Nachmittag kommen sechs Leute, mal nur einer. Wir sind auf jeden Fall verlässlich am Freitag da.»

Nur heute nicht, denn für einmal sitzen Yosief und Aebischer nicht im Büro in Liebefeld, sondern auf dem Gurten, zwei weitere Teammitglieder sind im Büro für Beratungen. Denn der Infopoint Yalla! ist eines der 16 Berner Projekte, das von «ici. gemeinsam hier» gefördert und finanziell unterstützt wird. Am schweizweiten Vernetzungstreffen halten die Infopoint-Initiant:innen Ohren und Augen offen, über 90 Teilnehmende der von Migros-Engagement mit mehr als einer Million unterstützten Projekte sind vertreten. «Vernetzen ist total wichtig. Wir profitieren von den Erfahrungen anderer, es ist super sich auszutauschen», sagt Yosief.
Derzeit finanziert sich ihr Infopoint Yalla! auch über das kantonale Integrationsprogramm, die Burgergemeinde Bern, die Gemeinde Köniz sowie private Spenden und Mitgliederbeiträge. Die Mitarbeitenden bekommen für die Beratungsstunden eine kleine Entschädigung. Ende des Jahres läuft die Finanzierung aus, ebenso muss ein neues Büro gesucht werden. Doch Aebischer ist fest entschlossen: «Wir werden weitermachen, auch ohne Entschädigung.» Mit jeder gelungenen Unterstützung steigt die Motivation, obgleich das Engagement der Beratenden neben Jobs und Familie viel Durchhaltevermögen braucht. Das gute Gefühl zu unterstützen bereichert sie. Besonders freut die Beiden das Vertrauen und die Dankbarkeit der Ratsuchenden. Aebischer geniesst die freundliche Atmosphäre beim Info­point Yalla! Es macht ihm nichts aus, seine Freitagnachmittage für das Projekt hinzugeben, im Gegenteil. «Das sind die besten Momente der Woche.»

Michèle Graf

PERSÖNLICH

Ruth Yosief, 35, wohnt in Wabern und ist verheiratet. Die Apothekerin hat ein Kind.

Andrea Luca ­Aebischer, 29, ledig, wohnt in Bern. Er ist Sozialarbeiter im Migrationsbereich. Beide gehören zum sechsköpfigen Projektteam des Infopoint Yalla!

INFOPOINT YALLA

Das Projekt Infopoint Yalla! wird von «ici. gemeinsam hier.», einer Ini­tiative von Migros-Engagement unterstützt. Ici vergibt Gelder und professionelle Beratung an lokale und regionale Projekte, die Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammenbringen und so den Zusammenhalt stärken. Die aktuelle Ausschreibung für neue Projekte läuft noch bis 31. Mai 2023. www.ici-gemeinsam-hier.ch

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