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Wenn er doch nur seine Hawa in die Arme schliessen könnte

Mit Hilfe von Schleppern und nach einer Odyssee durch acht Länder gelangt Jeylani Samadi in die Schweiz. Mit Sorge blickt er auf die aktuelle Entwicklung in seinem Heimatland und bangt um seine Angehörigen.

Bereits im Vorgespräch am Telefon fragt mich Jeylani Samadi, ob wir beim Interview auch auf die Taliban zu sprechen kämen. Aus aktuellem Anlass bejahe ich die Frage. Die Furcht vor Repressalien gegenüber seiner Familie in Afghanistan ist deutlich spürbar. Ich treffe Jeylani in seiner geräumigen 4½-Zimmerwohnung in Niederscherli, die er zusammen mit einem afghanischen Kollegen bewohnt. Mit Schweizer Medien ist er bereits in Kontakt gekommen: «Ein Filmteam von SRF1 war schon hier und porträtierte mich», sagt er stolz.

Kein Kontakt zur Aussenwelt
Zwei Gründe haben ihn 2015 dazu bewogen, aus Afghanistan zu flüchten: Ein persönliches Problem, worüber er lieber nicht sprechen möchte, und der Versuch der Taliban, ihn für ihre Aktivitäten und Interessen zu mobilisieren. «Ich sah keinen anderen Weg, ich wollte einfach nur weg aus Afghanistan, die Schweiz war nicht mein Ziel», erzählt er. Seine Familie organisierte und bezahlte die abenteuerliche Flucht durch acht Länder: Pakistan, Iran, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Österreich. «Ich war zu Fuss, mit dem Auto und dem Zug unterwegs. Von der Türkei nach Griechenland pferchte ich mich in ein übervolles Gummiboot», erinnert sich Jeylani nur ungern.
In der Schweiz angelangt, brachte man ihn in das Bundesasylzentrum Les Rochats in der Gemeinde Provence im Waadtländer Jura. «Das war völlig abgeschieden, wir hatten keinen Kontakt mit der Aussenwelt, Tiere waren unsere einzigen Nachbarn», blickt Jeylani auf seine ersten zwei Monate in der Schweiz zurück. Die Zeit von Januar 2016 bis Juni 2017 verbrachte er in der Asylunterkunft in Niederscherli. «Es war zwar alles sehr gut organisiert, aber man lebte ohne Ziel, ohne Perspektive, das war zermürbend», erzählt der 28-Jährige. Mit Hilfe von Sozialarbeitern erhielt er schliesslich die Wohnung am Dorfrand von Niederscherli. Seinen afghanischen Wohnpartner lernte er im Asylzentrum Les Rochats kennen. Die beiden bilden ein gutes Team. «Wir sind wie Brüder», lacht er.
Erst im Juli 2021 war Jeylani, der mittlerweile den Aufenthaltsausweis B besitzt, für drei Wochen in seinem Heimatland – um zu heiraten! Er verehelichte sich mit der 21-jährigen Hawa, einer angehenden Hebamme. «Wir kennen uns seit Kindesbeinen», schmunzelt er. Sein grösster Wunsch ist zurzeit, dass seine Hawa in die Schweiz nachreisen könnte. Jeylani wird nachdenklich, lebt doch seine ganze Familie in Afghanistan, sein Vater – die Mutter ist verstorben –, seine Geschwister, seine junge Frau.
Vor allem seiner Frau gilt die Sorge: «Es ist eine schwierige Situation für sie. Sie ist in den letzten 20 Jahren mit relativ grossen Freiheiten aufgewachsen, ohne Burkapflicht. Das wird sich wohl ändern, ich bin nicht sehr zuversichtlich. Man muss abwarten…» Den Kontakt mit seinen Angehörigen pflegt Jeylani meist per Whatsapp oder hie und da telefonisch («Ist aber teuer!»).

Geschenkt wurde ihm nichts
Hier in der Schweiz fühlt sich Jeylani Samadi befreit. «Ich kann hier leben wie ein Mensch, geniesse Freiheiten, die ich in Afghanistan nie kannte. Für mich ist das nicht selbstverständlich», sagt er dankbar. Indes, geschenkt wurde ihm nichts. Er musste sich die Ausbildung und die heutige Stelle erkämpfen. Das Praktikum und eine Vorlehre als Velomechaniker behagten ihm nicht. Dann absolvierte er bei einem Nutzfahrzeughersteller ein Praktikum als Lastwagenmechaniker, da wurden ihm die damals noch mangelhaften Deutschkenntnisse zum Verhängnis. Schliesslich schnupperte er in der Sanitärbranche und erhielt die Lehrstelle als Haustechnikpraktiker im Könizer Sanitär-, Heizungsund Lüftungsunternehmen Ulrich Pulver AG. Diese Grundbildung schloss er mit dem eidgenössischen Berufsattest im Juli 2021 erfolgreich ab. «In diesem Monat bin ich erstmals als vollwertiger Angestellter tätig», strahlt er. Zunächst seien ihm die Arbeitskollegen mit einer gewissen Skepsis begegnet, aber das habe sich zwischenzeitlich gelegt. «Ich fühle mich heute im Team wie in einer grossen Familie.»
Der Zukunft seines Heimatlandes sieht er zurückhaltend entgegen: «Wir müssen erst abwarten. Mit Waffengewalt erreichen wir gar nichts», resümiert Jeylani. «Wir müssen reden, reden, reden, und zwar mit den Nachbarländern, aber auch mit den Taliban. Hier könnte die neutrale Schweiz eine wertvolle Vermittlerrolle einnehmen», ist er überzeugt.
Wir verlassen seine Wohnung und begeben uns zum nahegelegenen Sportplatz, der Wirkungsstätte des Turnvereins Niederscherli, wo er seit vier Jahren aktiv mitmacht. Schon von Weitem begrüssen ihn einige seiner Turn-Kumpels: «Hey, Jeylani, hast ein wenig zugelegt, solltest wieder mehr turnen», frotzeln sie. «Ich habe viele Kollegen», weiss Jeylani zu erzählen. Kein Wunder, kommt er doch mit seiner gewinnenden, kontaktfreudigen Art gut an. Beim Abschied wird er wieder nachdenklich, schweigt lange. Er gibt die Hoffnung, seine Hawa bald in der Schweiz in die Arme schliessen zu können, nicht auf.

Peter Widmer

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