Slide Queer 02

Wenn Schnecken sich die Penisse wegfressen

Bunt und kurios: Mit «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» regt das Naturhistorische Museum zum Hinterfragen von Geschlechteridentitäten an. Mann oder Frau? In der Natur weit weniger eindeutig, als man denkt.

Clownfische, die ihr Geschlecht innert Tagen wechseln, asexuelle Komodowarane oder Würmer, die stundenlang in der 69er-Position Liebe machen können. Wer sich in die Ausstellung «Queer» des Naturhistorischen Museums Bern wagt, wird auf eine herausfordernde und wunderliche Expedition geschickt. Gleich nach dem Eröffnungsfilm geht es, mit einem persönlichen Expeditionsheft bewaffnet, in das, was die Macher das «Queerreich» genannt haben. Dabei bildet «queer» den Sammelbegriff für alle Menschen, die von der gängigen Geschlechter- und Sexualitätsnorm abweichen. Die Ausstellung verwendet den Begriff auch für Lebensarten im Tierreich. Zwischen den bunten Exponaten freut sich heute Kurator Simon Jäggi über die neugierigen Blicke. Die Ausstellung über Gender und Vielfalt jenseits aller Normen war anspruchsvoll zu konzipieren. «Die Menschen kommen mit unterschiedlichem Vorwissen hierher. Vom queeren Menschen bis zu denjenigen, die den Begriff queer noch nicht kennen. Alle sollen hier Erkenntnisse sammeln dürfen.» Zum Beispiel aus der schrägen Natur: So wird die Erdkröte im Alter praktischerweise weiblich und der Spalblättling ist ein echter Rekordpilz. Er kann 23328 verschiedene Geschlechtsformen haben. Ausserdem begegnet man dem fürsorglichen Helmkasuar, der Eier ausbrütet und vermännlichten Hyäninnen. Besonders kurios: Eine Nacktschneckenart, die sich beim Akt gegenseitig den Penis auffrisst. Was?! «Wer am Ende noch mehr Penis hat, darf dann das Männchen sein», erklärt Jäggi. Hier stimmt ausnahmsweise das alte Klischee: Es kommt eben auf die Länge an. Nebenan thronen zwei Schafböcke, darunter ein Walliser Schwarznasenschaf, auf einem Sockel. Es ist erforscht, dass etwa sechs Prozent der Böcke homosexuell sind. Daneben gibt es 1500 weitere Tierarten mit homosexuellem Verhalten.

Auch etwas für Konservative

Das Argument, dass eine Partnerschaft zwischen Mann und Frau die natürliche Lebensform und deshalb die Norm sei, findet Jäggi in der Ausstellung widerlegt. Natürlich sei per Definition erstmal das, was es in der Natur gibt. «Geschlechtervielfalt kommt in der Natur vor. Es gibt keine Form, die es nicht gibt. Leider wird ‹natürlich› oft als moralischer Begriff gebraucht. Das ist nicht sinnvoll.» Mit einem Augenzwinkern gibt er zu, dass er die Ausstellung doch gern den einen oder anderen konservativen Politikerinnen und Politikern empfehlen würde. Schnell ist der erste tierische Teil durchquert. Nun wirds interaktiver: Denn «Queer» ist vielmehr eine Ausstellung zum Menschen als über Tiere geworden. Spielerisch stellt man sich Fragen wie «Was an mir ist typisch weiblich? Was männlich?», «Was zieht mich sexuell an?» oder «Wäre es für mein Umfeld ok, wenn ich queer wäre?». Wer das grösste Einfühlungsvermögen beweist, gewinnt. Man lernt, dass ein männliches Gehirn eine typisch weibliche Struktur oder dass auch eine Frau Zellen in XY-Chromosomen haben kann. Die Ausstellung zeigt, dass das biologische Geschlecht keine eindeutige Sache ist, viel eher sind weiblich und männlich zwei Pole auf einem Spektrum. Fordert das manch einen Besuchenden zu sehr heraus? «Kritische Stimmung im Vorfeld der Ausstellung gab es vereinzelt», sagt Jäggi. «Doch gleich am ersten Wochenende hatten wir einen Besucheransturm. Die Rückmeldungen sind sehr positiv.» Das liegt sicher nicht zuletzt an der modernen, bunten Aufmachung. Informationen, spielerische Elemente und Kunst werden geschickt verbunden. Oft kann man schmunzeln, anderes verwirrt oder rührt an. So zeigt Jäggi seine Lieblingsstation mit sieben Interviews von queeren Menschen. Hier kann man hören, wie sich queer sein auf die Lebensgeschichten auswirkt. «Das Interview mit Eltern eines Transkindes bewegt mich beispielsweise sehr. Schon als Fünfjähriges äusserte das Kind sehr klar, dass es ein Mädchen sein möchte.»

Selbstauswertung zum Schluss

Im Jahr 2021 eine solche Ausstellung zwischen biologischen und gesellschaftlichen Aspekten und Kräften zu zeigen, findet Jäggi wichtig. «Queere Menschen gibt es häufiger als wir allgemein denken.» So erfährt man in «Queer», dass es schweizweit so viele Transmenschen wie Rätoromanisch Sprechende gibt und mehr Menschen homosexuelle Vorlieben haben als jährlich beim Lauberhornrennen am TV mitfiebern. Die Ausstellung zeigt insgesamt eine grosse Bandbreite von Phänomenen und wirft auch einen Blick in die Zukunft. Auf Zetteln kann man seine Wünsche hinterlassen. Ein Blick zeigt: Begriffe wie Toleranz, Freiheit, offenes Miteinander und respektvolles Interesse dominieren hier. Den Ausstellungsmachern ist bewusst, dass die aufgeworfenen Fragen über den Besuch hinaus beschäftigen werden. So kann man zuletzt durch drei verschiedene Türen das Queerreich wieder verlassen. Die mit der Aufschrift «Ich muss meine Eindrücke noch auswerten» passt heute wahrlich am besten: Die Expedition zum Selbst ist auch nach «Queer» noch lange nicht zu Ende. M

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