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Zurückfinden in ein normales Leben

Nach einer psychischen Krise ins alltägliche Leben zurückfinden? Die Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie Bern bietet dafür besondere Wohnformen an.

«Wie geht’s dir?», steht auf einem kleinen Plakat, das Rahel Stuker, Geschäftsführerin der Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie Bern (igs), betrachtet. Es wirbt für den Monat der psychischen Gesundheit, an dem sich auch die igs Bern beteiligt. Und die Frage auf dem Plakat ist alles andere als banal. Nicht selten ist sie ein Türöffner für die zehn Fachpersonen, die regelmässig ca. 40 Menschen begleiten, die derzeit in kleinen Wohngruppen und Einzelwohnungen der igs leben. Wer in eine psychische Krise, zum Beispiel durch eine Depression, geraten ist, aus einem stationären Aufenthalt kommt oder mit psychischen Einschränkungen lebt, hat hier die Chance ein möglichst autonomes und selbstständiges Leben in einer eigenen kleinen und bezahlbaren Wohnung zu führen. Die Begleitpersonen der igs helfen da, wo es nötig ist: Ob bei Behördengängen, Organisation oder einfach im zwischenmenschlichen Alltag. Da ist neben psychiatrischem, pflegerischem und sozialpädagogischem Fachwissen viel Beziehungspflege und Empathie gefragt. «Manchmal geht es bei den Besuchen auf den ersten Blick vor allem darum, gemeinsam einen Kaffee zu trinken und über den Alltag zu sprechen. Das sind kleine Dinge, die auch sehr viel bewirken», sagt Rahel Stuker. Die individuelle Begleitung richtet sich nach dem Motto «So wenig wie möglich, so viel wie nötig», denn das begleitete Wohnen soll eine Übergangsform sein: Die Menschen sind auf dem Weg zurück ins «normale» Leben. So bleiben manche ein paar Monate, andere etwa zwei Jahre.
Neben den Gesprächen geht es auch viel darum, Veränderungen wahrzunehmen. «Wie die Wohnung aussieht, zeigt auch wie es uns geht», erklärt Rahel Stuker. Wenn eine sonst sehr ordentliche Person plötzlich nicht mehr aufräumt, wäscht oder lüftet, kann das ein Anzeichen einer Verschlechterung des Zustandes oder für eine Krise durch Druck und Stress sein. So können die Fachpersonen der igs Bern frühzeitig nach Lösungen suchen.
Alle im begleiteten Wohnen gehen einer Tätigkeit nach: Ob Ausbildung, Werkstatt-Arbeit, Tagesklinik oder Job auf dem freien Arbeitsmarkt. «Denn das gibt eine wichtige Tagesstruktur vor. Und Teilhabe an Gesellschaft und Gemeinschaft ist entscheidend», weiss Rahel Stuker. Selbständigkeit ist dabei ein Wort, das sie betont. Und diese erlangen die Bewohnenden in vielen kleinen Schritten. Nach und nach brauchen sie immer weniger Hilfestellung, werden unabhängig. «Zum Beispiel wohnt bei uns auch eine Frau, die Mutter ist. Nun kann sie schon wieder viel mehr mit ihrem Kind unternehmen. Das sind Erfolge, die uns freuen.» Auf der anderen Seite erleben die Mitarbeitenden auch die Krisen mit. Da ist es ein Spagat, die professionelle Distanz zu behalten, aber gleichzeitig empathisch zu sein. «Man soll sich durch die Geschichten der Menschen berühren lassen, lernt aber in der Ausbildung damit umzugehen», fasst Stuker zusammen.
Die igs Bern setzt in ihrem Konzept auf ein positives Zusammenspiel. Ausgestattet mit einer Wohnung und einer Beschäftigung können die Menschen sich an das alltägliche Leben auch mit sozialen Kontakten wieder gewöhnen. «Sie sammeln die Erfahrung: Ich kann etwas, bin kompetent und selbstständig.» Neben allenfalls notwendigen Therapien können sie an Freizeitangeboten wie einem Märit-Kaffee wie Theater oder bei Radio loco-motivo teilnehmen. Bei Letzterem machen Menschen mit und ohne Psychiatrieerfahrung eine monatliche Radiosendung. Genesung, Rehabilitation und Integration in den Alltag können so gleichzeitig, statt nacheinander ablaufen.
Die igs bietet diese Wohnform seit über 35 Jahren an. Derzeit liegen viele der Wohnungen teilweise auf dem Land nahe Bern, ab 2021 möchte die igs stärker auf eine durchmischte genossenschaftliche Struktur möglichst stadtnah setzen. Das sorgt auch dafür, dass die Bewohnenden nicht am Rand bleiben und vielfältige Kontakte aufnehmen können: Und sei es nur die Begegnung in der Waschküche oder im Treppenhaus. Denn neben jeder Therapie ist vor allem das das Miteinander fördernd. «Ob Angehörige, Nachbarn, Freunde oder Kollegen. Es ist das ganze soziale Umfeld, das diesen Menschen hilft, gesund zu werden.»

Michèle Graf

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