Am Berg zu Hause: Markus Müller ermöglicht als Bergführer Menschen ihr Gipfelerlebnis, bildet aus und zeigt die faszinierende Natur der Alpen. Auch nach 25 Jahren ziehen ihn die Berge noch magisch an.
Was für eine Bergsicht! An diesem Morgen im Viererfeld steht Bergführer Markus Müller die Freude ins Gesicht geschrieben. «Wir haben das Abenteuergelände direkt vor der Haustür», sagt er auf die Frage, was ihn als Stadtberner in die Berge zieht. Er schätzt die direkte Ausgangslage seiner Heimat, kann er doch von hier aus im Freiburgischen Wände erklettern, im Oberland Skifahren und im Wallis hohe Berge besteigen. Dort erlebt er immer wieder Flow-Momente, die man nicht bewusst herbeiführen kann. Er beschreibt sie als zeitlosen Kletterfluss, jeder Griff gelingt, die Balance zwischen Können und Herausforderung, Anspannung und Lockerheit passt einfach. Dann fühlt er sich fast eins mit dem Berg. «Wie ein Adler, den ich neulich bei einer Tour sah und der mühelos durch die Luft glitt. Das wäre ein Traum, die Elemente so zu beherrschen».
Doch Müller weiss, dass der Mensch am Berg bei weitem nicht alles im Griff hat. Er erzählt von einem prägenden Erlebnis. «Mit 19 gerieten Freunde und ich in eine Lawine bei Adelboden. Ich konnte nicht atmen, weil Nase und Mund mit Schnee voll waren. Ich wurde verschüttet. Zum Glück konnten meine Freunde mich gleich ausgraben.» Das abgegangene Schneebrett war riesig, die herbeigerufene Rega bescheinigte den jungen Männern, nur wenige Zentimeter am Tod vorbeigekommen zu sein. «Ich habe definitiv zweimal Geburtstag», reflektiert Müller heute.
Wissen und Vorbereitung
Auch mit seinen Gruppen hat der Bergführer schon brenzlige Situationen mit Steinschlag und kleinen Lawinen erlebt. Doch: «Lawinen sind heute sehr gut erforscht. Mit dem nötigen Wissen und Vorbereitung kann man sehr sicher im Gelände unterwegs sein.» Müller spricht von einer demütigen Haltung und der Gelassenheit, im Zweifel lieber auf eine Tour zu verzichten. «Am Berg wird es sehr schnell existenziell, anders als im normalen Leben.» Aber das macht für ihn auch das Spannungsfeld im Bergsteigen aus. «Da gibt es keine Ausreden, ich muss Entscheidungen in kompletter Eigenverantwortung treffen und damit leben.»
Da Müller auf grosse Erfahrung im Felsklettern zurückgreifen kann, bietet er auch Touren in diesem anspruchsvollen Gebiet an. Wer in der Technik noch etwas besser werden oder einen bestimmten Schwierigkeitsgrad endlich schaffen will, kommt zu ihm. Dieser Kundenkreis ist kleiner, Müller schätzt es, ihnen Tipps mitgeben zu können. Der grosse Gipfelsturm steht dabei nicht im Mittelpunkt.
«Heute wird viel schneller Berggestiegen als früher», weiss der Bergführer, der schon als Jugendlicher im Fels zu Hause war. Er spürt die Veränderung der Natur und des Sports. Gab es vor einigen Jahren eindeutige Zeitfenster für Ski- und Bergtouren, sind es heute viele Monate im Jahr. «Ich fange Mitte Dezember mit Lawinenkursen an, im Januar dann mit Skitouren. Die gab es früher eher Mitte März bis Mai.» Mit 14 Bergführern hat er sich zum Kollektiv Bergpunkt mit Sitz in Gümligen zusammengeschlossen. Vor 22 Jahren waren sie die Ersten, die ein systematisches Ausbildungskonzept für Bergsteiger anboten. «Heute kommt ein Grossteil des Umsatzes im Winter rein.» Skitouren, Hochtouren, Alpin- und Gletschertrekkings sowie Skitourenreisen werden in unterschiedlichen Niveaus angeboten.
Die perfekte Tour
Highlights in all den Jahren am Berg? Müller überlegt kurz: «Besonders stolz war ich, als ich die geschichtsträchtige Eigernordwand erklettern konnte.» Auch in Südamerika war er oft in den Wintermonaten aktiv. Er erinnert sich an eine Tour in Patagonien. Auf dem Gipfel des Nordturms der Torres del Paine stand er mit einem Kollegen um neun Uhr abends. «Es dämmerte, der Schattenwurf des Turms reichte 100 Kilometer in die Ebene. Wunderschön. Alle Emotionen mischten sich: Stolz, Begeisterung, aber auch Furcht und Respekt vom Abstieg im Dunklen.»
Auf den meisten 4000ern der Schweiz ist er gewesen, träumt nicht mehr von bestimmten Gipfeln, ist aber immer noch in das Gefühl einer perfekten Tour verliebt. Im Bekannten neue Routen zu entdecken, das packt ihn. Der Familienvater arbeitet nicht mehr hauptberuflich als Bergführer, ist jährlich noch 20 Tage für Bergpunkt unterwegs. In den Touren erzählt er viel zu Natur und Landschaft. «Die leuchtenden Augen der Teilnehmenden zu sehen, das fägt einfach.»
Ökologie ist ihm bei seinem Sport wichtiger geworden. Bergsteigen ist sehr CO2-intensiv. «Ich vermeide Flüge ins Ausland, Touren hier gehe ich lieber mehrtägig, anstatt in jeder freien Minute mit dem Auto zum Berg zu rasen. Das bringt auch Qualität.» Mit der Familie ist Müller mehrmals pro Monat in den Bergen, die gelben Wanderwege sind dabei aber nicht so sein Ding. «Um eine neue Landschaft zu entdecken ja, aber sonst gehe ich lieber biken.» Im Berner Oberland machen sich bei ihm langsam «gewisse Abnutzungserscheinungen» bemerkbar, lacht Müller und schiebt nach. «Aber trotzdem gibt es am Berg noch so viel zu entdecken.»
Michèle Graf-Kaiser
Markus Müller (42) stammt aus Säriswil und wohnt in Bern. Er studierte Geografie und Geologie und arbeitet heute als Organisationsberater. Er ist seit 2006 Bergführer und gehört dem Kollektiv Bergpunkt an. Müller ist liiert und hat eine kleine Tochter, die auch schon gerne klettert.