Bundesräte pflegen hierzulande nach 100 Tagen eine erste Bilanz zu ziehen. «Ich bin definitiv kein Schweizer Bundesrat», entgegnet Adi Hütter auf die Bitte, 77 Tage nach der Vertragsunterzeichnung bei der Eintracht für den Bärnerbär eine Auslegeordnung zu machen.
Der Vorarlberger und «Beinahe-Schweizer» hat sich seit seinem Weggang in Bern nicht verändert. Bescheiden, kommunikativ, offen und ehrlich beantwortet er die Fragen. Genauso, wie man es sich von ihm gewohnt ist.
Adi Hütter, 77 Tage im Amt beim deutschen Traditionsverein Eintracht Frankfurt, dem Pokalsieger und Europa-League-Teilnehmer – wie sind Sie aufgenommen worden und wie haben Sie die ersten Tage und Wochen in der Mainmetropole erlebt?
Eigentlich bin ich ja erst seit dreieinhalb Wochen richtig im Amt. Es hat bei der Eintracht im Kader viele Änderungen gegeben und es wird noch weitere geben. Aber meine ersten Eindrücke sind sehr positiv. Der Verein ist riesengross, ausgezeichnet geführt. Das Interesse der Fans ist immens. Zu den Trainings kommen auch mal 1000 Personen. Die Begeisterung, die nach dem Pokalsieg herrscht, ist unglaublich.
Nicht allein die Begeisterung, auch die Erwartungshaltung der Eintracht-Fans und der Medien ist in Frankfurt in anderen Sphären als zuletzt. Sicher führt es auch zu Druck auf den Coach, wenn in der Lokalpresse Titel zu lesen sind wie «Angriff auf die Goliaths». Wie gehen Sie damit um, wenn die Leute erwarten, dass die rosigen Zeiten der Bayern und des BVB schon bald der Vergangenheit angehören und inskünftig die Eintracht die Szene beherrscht?
Es wäre vermessen, von einem Grossangriff unsererseits zu sprechen. Erstens ist die Konkurrenz sehr stark und die Bayern sind wie immer die hohen Favoriten. Dazu kommt, dass wir noch nicht wissen, welche Spieler uns noch verlassen und welche Spieler noch kommen werden.
Da steht vor allem der Name Ante Rebic im Vordergrund. Der Beinahe-Weltmeister wurde in Zagreb von 600 000 begeisterten Kroatien-Fans zusammen mit den anderen Stars wie Modric, Rakitic, Mandzukic oder Perisic empfangen, die Fahrt vom Flughafen dauerte im offenen Bus, statt wie vorgesehen eine, rund sechs Stunden. Kann die Eintracht einen Spieler, dessen Marktwert sich an der WM vervierfacht hat, überhaupt halten?
Bei Rebic verhält es sich wie bei jedem Transfer. Es muss für alle Seiten stimmen: für die Eintracht, den Spieler und den neuen Verein. Das ist die entscheidende Frage. Ist dies nicht der Fall, freue ich mich, wenn er bleibt. Er ist ein Musterbeispiel für einen Kämpfer und einen Leader.
Aber mit dem Pokalsieg und der damit verbundenen Qualifikation für die Europa League, dem Ausbau der Commerzbank-Arena und dem riesigen Interesse der Fans benötigt die Eintracht doch gar keine zusätzlichen Einnahmen.
Wie die finanzielle Situation im Detail aussieht, entzieht sich meiner Kenntnis. Sportdirektor Fredi Bobic hat mir gesagt, dass die Eintracht im Gegensatz zu früher die Finanzen im Griff hat und der Pokalsieg auch in wirtschaftlicher Hinsicht wertvoll war. Aber Geld kann ein Bundesligist immer gebrauchen.
Punkto Einnahmen dürfte die Europa League eine wichtige Rolle spielen. Man hört, dass in Frankfurt für das erste Heimspiel schon 40 000 Karten verkauft worden sind, ohne dass man den Namen des Gegners kennt.
Ja, das ist richtig. Alle drei Gruppenspiele sind bereits ausverkauft, ohne dass die Fans überhaupt wissen, gegen wen wir spielen. Das ist in Europa einzigartig.
Wie sieht Ihr Alltag während der Vorbereitung aus?
Wir trainieren zwei Mal täglich, wobei die Trainings immer von mehreren Medienvertretern verfolgt werden und zwar sowohl vormittags als auch nachmittags. Dazu kommen Medientermine, Gespräche, Kaderplanung, Sitzungen und die Suche nach einer passenden Wohnung.
Blicken wir nochmals kurz nach Bern zurück, wo Sie dank dem Titelgewinn Heiligenstatus erlangt haben und «Trainergott» genannt werden. War Ihr Abschied mit Emotionen verbunden?
Ja, zweifellos. Man spürt erst wenn man weggeht so richtig, was man gehabt hat. Ich verliess Bern und die Young Boys schweren Herzens mit wunderschönen Erinnerungen, nicht allein in sportlicher Hinsicht. Ich habe auch viele gute Freunde gewonnen. Diese Freundschaften werden ewig Bestand haben. Aber, und das ist ein Fakt: Ich will schauen, wie weit ich es als Trainer bringen kann und da kann man nicht Nein sagen, wenn ein traditionsreicher, ambitionierter Bundesligist anklopft.
Was sagen Sie dazu, dass YB-Sportchef Christoph Spycher der Eintracht zur Trainerwahl gratuliert hat?
Für mich ist das ein Riesenkompliment, das ich sehr wohl zu schätzen weiss.
Verfolgen Sie YB und die Arbeit Ihres Nachfolgers?
Selbstverständlich. Mit Gerardo Seoane habe ich mich vor meinem Weggang noch eingehend unterhalten, das erste Spiel gegen GC habe ich im Zusammenschnitt gesehen und mich über das wunderbare erste Tor von Sulejmani und die nicht weniger schöne Vorarbeit Sanogos riesig gefreut.
Pierre Benoit