Stadtlauf, Laufsport, Escalade,

Auch über Bern führt ein Weg nach Paris

Eigentlich ist sie Anfängerin – ­ein Marathon-Greenhorn notabene. Vor einem Jahr hat sich Fabienne Schlumpf, die Spezialistin über 3000 m Steeple, entschieden, Marathon zu laufen. Sie setzte die Idee in die Tat um – und wie!

Ihren ersten Marathon über 42,195 Kilometer bestritt sie vor Jahresfreist in Belp. Wohlwissend, dass sie neuen Schweizer Rekord gelaufen und die Olympialimite für Tokio unterboten hat, lief sie im Belpmoos mit einem Lächeln durchs Ziel. So, als ob die Strecke keine Spuren hinterlassen hätte.
Seit diesem grossartigen Debüt haben sich die Ereignisse überstürzt. Rang 12 an den Olympischen Spielen, hervorragende Ergebnisse und die Ränge 6, 4 und 4 gegen starke internationale Konkurrenz in Genf, Sion und Wien – ein neuer Stern am Schweizer Marathon-Himmel ist aufgetaucht.

Der grosse Schock
Doch Ende letzten Jahres dann der Schock: Fabienne Schlumpf, die wie jetzt in St. Moritz, normalerweise nebst Athletiktraining, Schwimmen und Radfahren wöchentlich zwischen 180 und 200 Kilometer läuft, litt an Erschöpfungssymptomen und hoher Herzfrequenz. Die Frau, die sonst kaum müde wird, wusste sogleich: «Es ist komisch, irgendetwas stimmt nicht. Ich hatte keine Schmerzen, die Ursachen waren unklar, bis die Spezialisten erkannten, dass ich an einer Herzmuskelentzündung leide.»
Die Folgen waren gravierend. «Zehn Tage lang konnte ich gar nichts tun, sass zuhause herum, dann ging ich langsam wieder ein paar Minuten spazieren – drei Monate lang war es unmöglich, ein Training durchzuführen. Erst Anfang April begann ich mit einem leichten Aufbautraining, doch ins Schwitzen geriet ich nie», blickt die mehrfache Schweizermeisterin auf diese schwierige Zeit zurück.

«Nicht so schnell wie vorher»
Bis zum Frauenlauf, der eine erste Standortbestimmung sein wird, ­lebt und trainiert die 31-Jährige in St. ­
Moritz. «Wenn der Schnee im April weg ist, trainiere ich immer hier im Engadin, es ist meine Sommerheimat geworden – die Bedingungen für Läufer sind perfekt.»
Der Trainingsaufwand ist noch nicht so, wie sich Schlumpf das wünscht; statt 200 Kilometer läuft sie derzeit pro Woche erst 130 Kilometer und «nicht so schnell wie vorher», wie sie mit einem Lächeln gesteht. Doch die Kernfrage bleibt: Warum hat die erfolgreiche Rekordhalterin über 3000 m Steeple auf den Marathon umgesattelt? «Ich habe schon lange damit geliebäugelt, brauchte eine neue Herausforderung und die habe ich, mit allem Respekt für diese Distanz, jetzt im Marathon gefunden.»

Ihr Trainer, der Prophet
Trotz des Trainingsrückstands hat sich die Olympionikin hohe Ziele gesteckt, auch für diese Saison. «Die Weltmeisterschaften in Eugene lasse ich aus, die kämen für mich beim jetzigen Trainingsstand zu früh. Doch die Europameisterschaften in München sind ein Ziel, bis dann möchte ich topfit und auf möglichst hohem Niveau sein.»
Bei einem solchen Grossanlass werden selbstverständlich Erinnerungen an ihren grandiosen Lauf bei den Olympischen Spielen in Tokio wach. «Ich fragte meinen Trainer Michael Rüegg vor dem Abflug nach Japan, was für mich möglich sei und staunte, als er mir einen Rang zwischen 10 und 20 prophezeite und mit Rang 12 schliesslich richtig lag.» Bleibt die Frage, welchen Rang Rüegg in zwei Jahren für Olympia in Paris voraussagen wird. Falls er sich erneut als Wahrsager entpuppt und Rang 1 bis 3 voraussagt, möge er erneut recht behalten.
Doch vorerst dürfen sich die Berner Leichtathletik-Fans freuen, wenn Fabienne Schlumpf am kommenden 12. Juni quer durch Berns Strassen die fünf Kilometer abspult. Eine Strecke, die für die Marathonläuferin im Prinzip zu kurz und nicht mehr als ein lockeres Einlaufen ist. «Viele Wege führen nach Rom», heisst eine bekannte Redewendung. Warum also sollte Fabienne Schlumpfs Weg nach Paris nicht über Bern führen?

Pierre Benoit

Weitere Beiträge

Weitere Beiträge