Wer im September 2016 auf der Tribüne des damaligen Stade de Suisse sass und Michel Aebischer bei seinen ersten Einsätzen im Fanionteam auf die Füsse schaute, sah sofort: Da hat YB nicht nur ein Talent gefischt, sondern einen, der es ganz weit bringen kann.
Heute, rund vier Jahre später, ist klar: Wer dem bescheidenen Freiburger eine grosse Karriere voraussagte, lag richtig. Selbstbewusst, ehrgeizig und ebenso bescheiden, ist er mit 23 Jahren bereits Denker und Lenker im YB-Mittelfeld. Er verteilt die Bälle beidfüssig, schlägt stehende Bälle, wenn Miralem Sulejmani oder Gianluca Gaudino nicht gerade zur Stelle sind, und tut dies mit ähnlicher Genauigund Schlitzohrigkeit wie die beiden Spezialisten.
Im Alter von 23 Jahren dreimal in Serie Meister, Cupsieger, das erste YB-Double seit 62 Jahren, bereits drei Einsätze in der Nationalmannschaft, Champions League – Sie müssen auf Wolke sieben schweben und den Bodenkontakt längst verloren haben.
Um gut Fussball zu spielen, braucht man unbedingt Bodenkontakt. (lacht) Nein, im Ernst: Wer mich kennt, weiss, dass es mir sehr wichtig ist, mit beiden Füssen auf dem Boden zu bleiben. Das Wort Demut wird bei YB oft gebraucht. Und wir sind damit sehr gut gefahren. Natürlich freue ich mich sehr über die Erfolge und meine Entwicklung. Aber sie ist noch längst nicht abgeschlossen.
Als Sie zu YB kamen, waren Sie doppelter Stift. Auf der Geschäftsstelle und im Team. Keine Bange, wir fragen Sie nicht, wo es Ihnen besser gefallen hat. Innert kürzester Zeit haben Sie sich auf dem Feld vom Stift zum CEO entwickelt. Wie beurteilen Sie selbst diesen riesigen Sprung?
Es ist normal, dass man sich zuerst hinten anstellt, wenn man neu in ein Team kommt. Ich sehe mich nicht als CEO. Aber ich übernehme gern Verantwortung und habe in der internen Hierarchie zusehends eine wichtigere Rolle erhalten. Das freut mich.
Wo es noch hapert, ist trotz perfekter Schusstechnik das Toreschiessen. Fünf Zentimeter weiter links, zehn Zentimeter mehr rechts oder ein wenig tiefer – mit etwas grösserer Präzision hätte Jean-Pierre Nsame um seine Krone als Torschützenkönig zittern müssen.
Jean-Pierre hat 32 Meisterschaftstore erzielt. Das ist ein grandioser Rekord. Es trifft zu, dass ich mich im Abschluss verbessern muss. Vielleicht könnte man es so sagen: Beim Passspiel ist die Präzision vorhanden, bei den Schüssen noch zu wenig.
Was sagen Sie, wenn ich behaupte, dass Sie in der kommenden Saison Ihre Torquote (2019/20:3) mindestens verdreifachen?
Das würde ich sofort unterschreiben. Es ist eine optimistische, aber nicht komplett unrealistische Behauptung.
Oder sind Sie gar Mitglied im Kegelklub Heitenried? Bei den Keglern heisst es «knapp vorbei ist auch daneben».
Das trifft auch im Fussball zu. Aber gibt es den Kegelklub Heitenried überhaupt? Ich denke nicht.
Sie liegen richtig, es gibt ihn nicht. Sprechen wir von der kommenden Saison. Am Mittwoch folgt die zweitletzte Hürde in der Champions-League-Qualifikation gegen Midtjylland, am Samstag startet die Meisterschaft gegen den FCZ. Was erwarten Sie?
Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, aber wir wollen alles dafür tun, die nächste Runde zu erreichen. In diesem Jahr sind solche Spiele nochmals spezieller, weil es nur ein Spiel gibt, in dem es um alles oder nichts geht. Wir müssen auf den Punkt bereit sein und alles in die Waagschale werfen.
In der Super League kann nur der vierte Titel in Serie und damit die Wiederholung der «goldenen YB-Jahre» von 1957-60 mit vier Titeln und einem Cupsieg das Ziel sein.
Ich glaube, das ist in erster Linie ein Thema für die Medien und die Fans. Für uns als Mannschaft bringt es nichts, allzu weit nach vorn zu schauen – der nächste Frühling, wenn die Titel vergeben werden, ist noch weit weg. Für uns geht es darum, die Basisarbeit wieder sehr gut zu erledigen, den Hunger der letzten Jahre, die richtige Einstellung und den Willen zur Verbesserung auf den Platz zu bringen. Dann kommt es gut.
YB scheint noch stärker als vergangene Saison, die Konkurrenz zumindest auf dem Papier schwächer zu sein. Wo überhaupt gibt es Stolpersteine?
Wer als Spieler so denkt, hat schon verloren. Wir bei YB haben vor jedem Gegner grossen Respekt, gehen Schritt für Schritt und wollen das beeinflussen, was wir selbst beeinflussen können. Damit sind wir in den letzten Jahren gut gefahren und daran wollen wir nichts ändern. Womit wir wieder beim Wort Demut wären …
Pierre Benoit