In der Vorrunde war YB wahrlich nicht vom Glück verfolgt, die Verletztenliste lang. Besonders schlimm präsentierte sich die Situation im Tor, wo nicht ganz freiwillig insgesamt fünf Goalies zum Handkuss kamen.
«Er ist Feuer und Flamme für YB», sagte Sportchef Christoph Spycher nach der Ankunft Anthony Racioppis in Bern. «Nach sechs Monaten auf der Bank wollte ich unbedingt wieder spielen. Dass ich das bei YB tun kann, ist grossartig», sagt Racioppi, der neue YB-Goalie, der als sechster Schlussmann in dieser Saison jetzt die Nummer 1 ist. Im Dezember, nachdem sich David von Ballmoos verletzt hatte, führten die YB-Verantwortlichen erste Gespräche mit dem Goalie, der sich in der Schweiz vor allem durch seine Auftritte und Leistungen mit der U21-Auswahl ins Rampenlicht gespielt hatte. Gegen Lugano stand der 23-jährige Keeper nun erstmals in einem Ernstkampf zwischen den YB-Pfosten und tat dies ohne Fehl und Tadel. Viel Arbeit hatte er allerdings nicht zu verrichten, die Statistik der Swiss Football League unterstreicht dies. Zwei Lugano-Schüsse flogen aufs Tor, 56 Prozent Ballbesitz für YB. «Ich gewinne lieber 1:0 als 3:2, das ist für einen Goalie normal. Klar ist auch, dass ich in Dijon beim Kampf gegen den Abstieg öfters beschäftigt war als bei YB. Doch der Druck bleibt der gleiche, ob du um den Titel oder gegen den Abstieg spielst, ändert da wenig», so der neue YB-Goalie. Begonnen hat Anthony Racioppis Karriere in Genf bei CS Chênois, dem Verein, der in den 70er- und 80er-Jahren während acht Saisons in der Nationalliga A spielte. Bereits im Alter von 12 zog er weiter nach Lyon. Dort lebte er in einem Internat und trainierte im Ausbildungszentrum von Olympique Lyon, dem früheren Arbeitgeber des 81-fachen Internationalen Patrick Müller. Im Klub aus der Stadt zwischen Saône und Rhone, der für seine hervorragende Nachwuchsarbeit bekannt ist, verfeinerte er sein Können und schaffte es nach einem Wechsel zum FCO Dijon in die Ligue 1. Der Wechsel zu YB ist nun ein weiterer Meilenstein in der Karriere. «Wenn YB ruft, der Meister mit einem solchen Palmarès, muss man nicht lange überlegen», sagt Anthony Racioppi.
Mit Deutsch auf Kriegsfuss
Obwohl er erst ein paar Wochen in Bern lebt, fühlt sich Anthony Racioppi schon pudelwohl. «Ich kannte bereits einige Spieler persönlich, wurde von den Kollegen hervorragend aufgenommen und fühle mich bestens integriert.» Der Goalie hat die vielen Abgänge zu Beginn der vergangenen Woche mitverfolgt, gibt sich aber diesbezüglich gelassen. «Ich weiss, dass sich die sportliche Führung von YB in Absprache mit den Spielern all diese Transfers gut überlegt hat und bin überzeugt, dass wir weiterhin über ein sehr starkes Kader verfügen. Das Ziel ist und bleibt die Verteidigung des Titels», gibt sich der Goalie, der auch den französischen Pass besitzt, kämpferisch. Weiter denkt der Genfer noch nicht. Er hat bei den Gelb-Schwarzen einen Vertrag bis 2025 unterschrieben, was heisst, dass YB langfristig mit dem hoffnungsvollen Mann plant. Um sich noch besser zurechtzufinden, stehen in nächster Zeit Deutschkurse auf dem Programm. Racioppi spricht zwar perfekt Französisch und Italienisch und hat deshalb im Team keine Verständigungsschwierigkeiten. Doch mit der deutschen Sprache steht er vorderhand noch auf Kriegsfuss. «Bärndütsch?», fragt er. «Ich höre keinen Unterschied zwischen Deutsch und ‹Bärndütsch›.» Nun gut, erzähle dies einmal einem Deutschen… In der Stadt hat sich der Neu-Berner auch bereits eingelebt. «Es gefällt mir, doch viel habe ich noch nicht gesehen, denn nach den anstrengenden Trainings erhole ich mich gerne zuhause», sagt er.
Bald definitiv die Nummer 1?
Wer sich Folgendes Szenario vorstellen kann, ist kein Schelm: Es scheint durchaus möglich, dass David von Ballmoos nach vollständiger Genesung seinen Platz als Nummer 1 wieder übernimmt. Doch Ende Saison wird möglicherweise die YB-Zeit des Emmentalers vorbei sein – an Angeboten aus grossen Ligen dürfte es kaum fehlen und so könnte sich Anthony Racioppi wieder als Nummer 1 etablieren. Doch solche Gedanken hegt der neue Goalie nicht. «Ich will weitere Fortschritte erzielen, mit YB Erfolg haben, alles andere ergibt sich dann von selbst. «Gut Ding will Weile haben oder jedes Ding zu seiner Zeit», gibt sich der zehn Minuten vor Mitternacht an Silvester geborene YB-Neuling gelassen. Ob es Glück oder Pech bedeutet, an Silvester Geburtstag zu feiern, darüber macht sich der 190 Zentimeter grosse Modellathlet keine Gedanken. «Wir feiern immer in der Familie, ob Silvester oder Geburtstag ist nebensächlich, wichtig ist vielmehr, dass wir zusammen, ‹en famille›, die Feste feiern können.
Pierre Benoit