Marc Hirschi (22) hat 2020 den Radsport aufgemischt und bewegt sich auf den Spuren von Fabian Cancellara. An der Tour de Suisse will er sich für die Saisonhöhepunkte in Form bringen.
Marc Hirschi, wie sieht Ihr heutiger Tag aus?
Eigentlich sehr gemütlich, da dies der Ruhetag in unserem zweiwöchigen Höhentrainingslager in Sestriere ist. (lacht) Ich habe um zehn Uhr Zmorge gegessen und anschliessend noch ein anderes Interview gegeben. Nach unserem Gespräch gibt es Zmittag, dann Massage und Stretching. Danach entscheide ich mich spontan, ob ich mich noch aufs Velo setze.
Ist das eine Lustfrage?
Es ist eine Form der aktiven Erholung. Manche Fahrer brauchen das, ich nicht unbedingt. Schön ist es, wenn man sich danach mit den Teamkollegen noch in ein Strassencafé setzen kann, doch momentan ist das hier noch nicht möglich.
Bald beginnt die Tour de Suisse. Mit welchen Ambitionen gehen Sie an den Start?
Ich muss schauen, wie ich mich kurz nach diesem Höhentrainingslager fühle. Ich werden sicher nicht aufs Gesamtklassement fahren, sondern auf den Etappen etwas probieren, die vom Streckenprofil klassischen Eintagesrennen ähnlich sind. Nicht zu bergig, aber mit Steigungen, welche die Sprinter nicht so mögen. Man wird sehen, was drin liegt. Für mich ist es wichtig, dass ich am Fahren Freude habe und etwas zeigen kann.
Die vierte Etappe führt von St. Urban nach Gstaad. Die kennen Sie wohl wie Ihren Hosensack?
Emmental und Simmental kenne ich schon sehr gut, doch das ist kein grosser Vorteil, weil es sich um breite Strassen handelt, die wir befahren. Aber die Windverhältnisse gilt es zu beachten.
Wie sind Sie mit dem bisherigen Saisonverlauf zufrieden?
Persönlich ist es nicht ganz nach Wunsch gelaufen. Der sechste Platz beim Lüttich-Bastogne-Lüttich war okay, aber schon nicht das, was ich mir erhofft hatte.
Sind die Resultate ein Spiegel Ihrer Form?
Teilweise. Klar wird es nicht einfacher, wenn dich die Konkurrenz genauer beobachtet. Klar wäre das eine oder andere Mal mit etwas Glück mehr dringelegen. Andererseits war ich nicht weit weg. Das kleine Stück, dass es ausmacht, ob man um den Sieg mitfahren kann, hat aber noch gefehlt.
Sind Sie körperlich noch nicht ganz dort, wo Sie gerne wären?
Am Anfang des Jahres hatte ich mit der Hüfte Probleme.
An Selbstvertrauen dürfte es Ihnen nach der letzten Saison ja nicht fehlen, oder?
Ja, sicher. Ich weiss, dass es möglich ist, dass ich wieder auf dieses Level komme oder hoffentlich sogar noch auf ein besseres, aber es muss eben vieles zusammenpassen. Der achte Platz im Zeitfahren der Tour der Romandie war wieder ein Schritt nach vorne.
In welcher Situation ist für Sie am wichtigsten, dass Sie mit Fabian Cancellara einen Manager an Ihrer Seite haben, der alles schon selbst erlebt hat?
Wenn es sehr gut läuft und extrem viele Leute etwas von dir wollen, kann er mir Arbeit abnehmen und Tipps für die Medienarbeit geben. Er ist auch sehr empathisch, wenn es mal nicht so gut läuft.
Was ist sein aktueller Rat?
Dran zu bleiben, geduldig und auf mich selbst fokussiert. Mich nicht durch die gewachsenen Erwartungen der Öffentlichkeit verrückt machen lassen. Sich über Fortschritte freuen. Schon ein kleines Erfolgserlebnis kann dazu führen, dass es wieder läuft.
Zurück zur Tour de Suisse. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre erste und bislang einzige Teilnahme 2019?
Sehr starke natürlich, denn sie führte durch die Region, in der ich lebe und trainiere. Es war das erste Mal, dass meine Familie an einem Profirennen von mir dabei war. Als ich am Ende über die Ziellinie fuhr, war das ein unheimlich tolles Gefühl, da ich seit meiner Kindheit davon geträumt hatte, einmal an der Tour de Suisse teilnehmen zu können.
Wie haben Sie diese damals verfolgt?
Mit meinem Vater fuhr ich am Morgen auf dem Velo an die Strecke und am Nachmittag waren wir meistens auf dem Zielgelände der Etappe.
Was macht Ittigen zum Biotop für künftige Velostars?
Einerseits ist es wohl Zufall, anderseits war der Radsport durch Fabian ständig im Gespräch. Ich erinnere mich noch an die Begeisterung, als er nach seinem Olympiasieg in Peking in einer Kutsche durchs Dorf gefahren wurde. Damals habe auch ich ein Autogramm von ihm geholt.
Das Foto von damals ist bereits Geschichte. Haben Sie als Zehnjähriger bereits Juniorenrennen bestritten?
Nein, ich war erst ein wenig mit meinem Vater unterwegs, der als Amateur regionale Rennen fuhr. Den ersten Wettkampf bestritt ich erst zwei Jahre später, noch auf einem Mountainbike.
Für Hobby-Gümmeler sind die Landschaften, durch die man fährt, oft ein toller Mehrwert im Vergleich zu anderen Sportarten. Können Sie die Umgebung noch geniessen?
Ja, vor allem im Training, wenn ich das erste Mal an in einer Region bin. Es ist spannend, das Baskenland, Südspanien oder Frankreich mit dem Velo zu entdecken.
Man sagt den Velorennfahrern einen Hang zum Masochismus nach. Was reizt Sie daran, an Ihre Schmerzgrenze oder darüber hinaus zu gehen?
Der Erfolg und die Freude, wenn ich mich besser überwinden kann als andere.
Woher kommt diese Fähigkeit?
Sie ist sicher eine Gabe, es fällt immer schwerer sie zu nutzen, denn es kostet jedes Mal Substanz, wenn man ans Limit geht. Als Profi muss man trotzdem versuchen, es zur Routine werden zu lassen. Wenn man sich jedes Mal neu motivieren muss, alles aus sich herauszuholen, ist es noch anstrengender. (lacht)
Welchen Anteil hatten Strategie und Renninstinkt an Ihren grössten Erfolgen?
Wenn es nur bergauf geht, ist der Kopf weniger wichtig als die Beine, aber bei mir spielte die Taktik eine entscheidende Rolle. In Situationen, wo du dich im Bruchteil einer Sekunde entscheiden musst, was du tust, brauchst du beim Pokern auch etwas Glück.
Apropos Pokern. Was spielen junge Veloprofis?
In den Trainingslagern hat immer jemand ein neues Game dabei, aber ich bin da nicht so aktiv. Hier gäbe es im Hotel einen Pingpongtisch und einen Töggelikasten, doch ist man dafür meistens zu müde. Ich telefoniere extrem viel mit meiner Freundin und Kollegen oder sehe mir noch einen Film an.
Sie verdienen nun sicher deutlich mehr. Haben Sie sich schon etwas Spezielles geleistet?
Nein, ich brauche keinen Luxus.
Worauf verzichten Sie dem Spitzensport zuliebe?
Ich bin pro Jahr nur etwas hundert Tage zuhause. Wenn die Freundin oder die Kollegen in den Ausgang gehen, an ein Open Air, Zelten oder Aare-Böötle, muss ich meistens passen.
Aber auf dem Gurten waren Sie schon einmal?
Nein, ich war noch gar nie an einem Konzert. Als ich beim Bund (VBS) meine KV-Lehre gemacht habe, die vier statt drei Jahre dauerte, damit ich neben dem 70-Prozent-Pensum intensiv trainieren konnte, hatte ich sogar noch weniger Freizeit als heute!
Wie geht es bei Ihnen nach der Tour de Suisse weiter?
Bei der Tour de France werde ich auf den ersten Etappen noch einige Freiheiten geniessen, mich dann aber ganz in den Dienst von Tadej Pogačar stellen. Alles ist darauf ausgerichtet, dass er die Tour wieder gewinnen kann. Falls die Olympischen Spiele stattfinden, werde ich am Strassenrennen in Tokio teilnehmen und meine Chance zu nutzen versuchen.
Reinhold Hönle