Wir sind fünf Minuten zu früh zum Termin mit Ernst Graf und treffen im Restaurant Eleven im Stadion Wankdorf auf eine geballte Ladung an FussballFachkenntnis. Stéphane Chapuisat, Gérard Castella, Albert Staudenmann und Ernst Graf sitzen beim Espresso nach einem gemeinsamen Meinungsaustausch beim Zmittag.
Zwei Romands, ein Zürcher und ein waschechter Berner, es wird zweisprachig hin und her diskutiert – der Röstigraben ist in weiter Ferne. Und Ernst Graf, der Winterthurer, ist alles andere als ein Aussenseiter. «Ich fühle mich hier pudelwohl, es gefällt mir, ich habe in Bern wunderbare Menschen und Kollegen angetroffen und wertvolle Kontakte geknüpft», beantwortet Ernst Graf die Frage nach seinen Befindlichkeiten in der Bundesstadt. Ein Ende seiner Tätigkeit als Vertreter der Sportabteilung im Verwaltungsrat und Ausbildungschef und Koordinator der U15 plus U16 liegt deshalb in weiter Ferne, auch wenn der überaus fitte Gesprächspartner im vergangenen Mai die 70-Jahr-Grenze überschritten hat. «Solange man bei YB das Gefühl hat, ich bringe dem Verein etwas, bleibe ich mit Freude und Engagement gerne dabei.»
Neid als Fremdwort Axel Thoma, der damalige FCZ-Sportchef, holte Ernst Graf 2003 als Nachwuchschef zum FC Zürich, damals von Sven Hotz, dem legendären Nachfolger des noch legendäreren Edy «Stumpe»-Naegeli, präsidiert. «Ich war glücklich, das Hobby zum Beruf machen zu können, und nahm diese Herausforderung gerne an.» Der Termin zur Vertragsunterschrift im Büro des Präsidenten dauerte zwar länger als erwartet, weil Hotz während drei Stunden Geschichten aus seinem und dem FCZ-Leben erzählte, doch schliesslich blieb Ernst Graf doch rund zehn Jahre im Verein tätig. Er half mit und sah hautnah, wie Spieler wie Blerim Dzemaili, Admir Mehmedi, Josip Drmic, Ricardo Rodriguez, Djibril Sow und viele andere den Weg aus dem FCZ-Nachwuchs nach oben und eine internationale Karriere schafften. Ein Abstecher nach St. Gallen nahm ein schnelles Ende, weil in der Vereinsführung nicht alles stimmte, und so kam die Anfrage aus Bern, als Erminio Piserchia sein Amt als Nachwuchschef niederlegen und wieder vermehrt auf dem Rasen stehen wollte, gerade gelegen. «Als dieses YB-Angebot vorlag, musste ich nicht lange überlegen. Heute bin ich glücklich, in einem der führenden Vereine der Schweiz tätig sein zu können, in einem Umfeld, in dem Teamwork grossgeschrieben wird und Neid ein Fremdwort ist.» Als Vertreter des Sportkomitees im YB-Verwaltungsrat stellen wir Ernst Graf auch die Frage nach dem Geheimnis der erfolgreichen Arbeit von Cheftrainer Gerardo Seoane. «Bereits bei den ersten Gesprächen wurde deutlich, dass er gut zu YB passt, weil er eine klare Vorstellung hat, wie er mit seinem Team zu spielen gedenkt. Er ist stets gut vorbereitet und besitzt hohes Fachwissen. Er arbeitet strukturiert an sich und ist alles andere als ein Selbstdarsteller. Er will das Team und jeden einzelnen Spieler stets weiterentwickeln.» Und im Vergleich zu seinem Vorgänger Adi Hütter? «Seoane war sehr clever und hat nur dort kleine Retuschen vorgenommen, wo er das Gefühl hatte, es sei angebracht. Hütter hatte YB nach zahlreichen zweiten Plätzen den unbändigen Willen eingeimpft, endlich wieder Meister zu werden, Seoane hat eine ähnliche Auffassung des Fussballs und ist nicht weniger siegeshungrig.»
Die Freude, jeden Tag nach Bern zu fahren
Beeindruckt ist Ernst Graf als Mitglied der Sportkommission auch von der Zusammenarbeit in diesem Gremium. «Christoph Spycher, Stéphane Chapuisat und Gérard Castella waren ausgezeichnete Fussballer, argumentieren mit viel Überzeugungskraft und arbeiten als überzeugte Teamplayer immer zum Wohl von YB.» Bei all diesen positiven Aussagen und dem Lob, das alle YB-Exponenten ihrem VR-Mitglied aussprechen, ist damit zu rechnen und zu hoffen, dass der Zürcher, der sich in Bern so pudelwohl fühlt, die lange Anreise von Unteriberg SZ am Sihlsee ins Wankdorf noch lange auf sich nehmen wird. «Ich freue mich jeden Tag, wenn ich auf dem Weg nach Bern bin.»
Pierre Benoit