Normalerweise ist er fast durchwegs auf Achse, während der Corona-Krise wurde es aber auch bei Severin Lüthi ruhiger.
Der Berner verrät, ob er das Reisen vermisst hat, spricht über eines der Erfolgsgeheimnisse von Roger Federer und macht sich Gedanken über seine persönliche Zukunft.
Severin Lüthi, wissen Sie, wo Ihr Reisepass ist?
Da bin ich nicht sicher. Wahrscheinlich zuhause auf dem Möbel beim Eingang, Ich habe ihn lange nicht mehr gebraucht.
War der Davis Cup in Peru Ihr letzter Trip?
Fast. Nach der Rückkehr verreisten wir auf die Malediven in die Ferien. Kaum waren wir dort, wurde es unangenehm. Wir wussten nicht, ob wir noch nach Hause kommen und was noch alles kommt. Mir war nicht mehr wohl und so flogen wir nach drei Tagen wieder zurück. Wir waren am Mittwochabend abgereist, und als wir am Donnerstag ankamen, hatte Donald Trump die Grenzen in den USA geschlossen. Dann las ich die Schlagzeile: «100 Schweizer stecken auf den Malediven fest.» Hätten wir eine Woche länger als vorgesehen bleiben müssen, wäre das kein Problem gewesen, aber man hatte ja keine Ahnung.
Und seither waren Sie wie alle zuhause?
Genau. Und der Drang nach einer Reise ins Ausland war bei mir nicht vorhanden.
Wann waren Sie zuletzt so lange am Stück in der Schweiz?
Es gab längere Phasen, in Jahren zum Beispiel, in denen ich nicht nach Indian Wells und Miami reiste, wobei kaum drei Monate in Serie. Länger war die Pause auch 2016, als Roger die Saison abbrach. Da war bis Wimbledon alles normal, dann war ich noch an den Olympischen Spielen in Rio und am Davis Cup in Usbekistan. Im November nahmen wir in Dubai das Training wieder auf.
Haben Sie nun die Gegend um Thun noch besser kennengelernt?
Am Anfang waren wir viel daheim, danach ab und zu spazieren, es waren aber keine a u s g i e b i g e n , gewaltigen Wanderausflüge. Wir versuchten, uns an die Vorgaben zu halten, machten zwei, drei kleine Ausflüge, zum Beispiel mit dem Gottimädchen von Claudia zum Gantrischseeli. Seit mehr als einem Monat bin ich wieder mehr unterwegs, drei Tage pro Woche. Langweilig wirds mir nicht.
Haben Sie von der Tour irgendetwas vermisst?
Ich merke, dass ich nach all den Jahren etwas reisemüde bin. Von daher habe ich nicht den Drang, schnell wieder loszulegen. Mir fehlen die Matchsituationen, dass man die Leute sieht, aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Mit Roger habe ich mich zum oft über FaceTime unterhalten, das tun wir sonst nicht oft.
Hat Roger mit seiner Verletzung den bestmöglichen Zeitpunkt erwischt?
Ich glaube. Hat jemand eine Verletzung, war 2020 im Nachhinein ein ideales Jahr, gerade punkto Weltrangliste. Auf ihn hat es aber nicht einen grossen Einfluss. Er ist nicht der Typ, der daheim rumsitzt, frustriert ist und denkt: Die sind am Spielen, und ich kann nicht.
Kann man die Situation mit derjenigen von 2016 vergleichen?
Gewisse Parallelen gibt es. Beide Male hatte er eine Operation, beide Male gab es einen Rückschlag in der Rehabilitation, und in beiden Fällen war klar, dass es mehr Zeit brauchen würde, um wieder auf hundert Prozent zu kommen. Vielleicht kann er diesmal von 2016 profitieren. Ab Tag 1, als er sich zum Saisonabbruch entschlossen hatte, schaute er vorwärts.
Ist das eines seiner Erfolgsgeheimnisse?
Absolut. Er ist als Mensch so, er muss sich das nicht speziell einreden. Es müssen aber viele Faktoren zusammenpassen. Geht das Positive ins Sorglose rein und fehlt der Ehrgeiz, funktioniert das Puzzle auch wieder nicht. Seine Mischung ist ganz besonders: Er ist sehr ehrgeizig, aber auch fröhlich, diese Kombination findet man selten.
Zurück zu Ihnen persönlich: Eine Steigerung zu Roger Federer kann es für einen Trainer nicht geben. Ist das ein Problem für Sie?
Ein Thema ist es, ich werde mir irgendwann neue Herausforderungen suchen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es als Coach etwas Besseres gibt als ihn. An erster Stelle steht für mich, dass er ein Supertyp ist, an zweiter Stelle, dass er der Spieler ist, der er ist. Und als Coach gewinnt man lieber, als dass man verliert. Wir sind immer auf den grössten und schönsten Plätzen, alles ist toporganisiert. Man wird nie vergessen beim Transport, bekommt immer einen Trainingsplatz und hat Privilegien.
Irgendwann wird Rogers Karriere vorbei sein. Wie geht es dann bei Ihnen weiter?
Ich schliesse nicht aus, dass ich wieder einen Spieler coachen werde, versuche aber auch, die Augen für andere Sachen offen zu haben. Ich kenne viele Leute, habe gute Connections und ein paar spannende Projekte in den Bereichen Sport und Wirtschaft. Spruchreif ist aber noch nichts.
Langzeitprognosen sind schwierig, dennoch die Frage: Wird das Tennis immer ein wichtiger Bestandteil Ihres Lebens bleiben?
Generell habe ich dank dem Tennis ein Privileg. Ich habe nie das Gefühl, dass ich arbeiten gehe, es macht mir Spass. Heute sage ich, dass ich mit 60 nicht mehr als Coach einen Spieler betreuen möchte. Aber vielleicht denke ich irgendwann anders. Vielleicht merke ich: Darüber weiss ich am besten Bescheid, habe die besten Möglichkeiten, am meisten Herzblut. Ich kenne das: Ich war Profi bis fast 20, habe dann das KV gemacht und überlegt, ob ich es noch einmal versuchen sollte. Stattdessen machte ich die BMS und nahm ein Wirtschaftsstudium auf. Bald habe ich aber gemerkt, dass mich der Sport mehr fasziniert. Seither hat er mich nicht mehr losgelassen.
Plagen Sie manchmal Zukunftsängste?
Nein, aber es wäre gefährlich, wenn ich sagen würde, es wird alles ein Selbstläufer. Ich habe Respekt, denke, dass ich demütig bin, aber eine zentrale Frage ist, ob ich etwas finden werde, für das ich die gleiche Leidenschaft aufbringe.
Hat diese Leidenschaft auch Nachteile?
Ich würde es anders sagen: Es ist intensiver, emotionaler, man legt immer die Zusatzmeile zurück. Es ist mir aber lieber, als wenn ich eine unbefriedigende Aufgabe hätte und dafür um 17 Uhr das Mobiltelefon ausschalten könnte.
2014 haben Sie den Davis Cup gewonnen, mit dem Finalsieg in Lille. Seither ging es abwärts, aktuell figuriert die Schweiz in der Kategorie «ferner spielen». Macht Ihnen Ihre Aufgabe immer noch Spass?
Ohne Roger und Stan ist alles anders. Die ersten Jahre nach dem Titelgewinn waren okay, wir sind mit dem Team, das uns zur Verfügung stand, lange in der Weltgruppe geblieben, zuletzt kamen ein paar Niederlagen. Aber klar: Ich gewinne lieber, als dass ich verliere, und spiele lieber um den Titel. Davon sind wir weit weg. Mein Ehrgeiz ist es, den jungen Spielern so viel wie möglich mit auf den Weg zu geben.
Im Moment helfen Sie auch dem Top-Junioren Jérôme Kym. Wieso?
Ich bin überzeugt, dass er in einer wichtigen Phase ist und aktuell Hilfe braucht. Ich versuche, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, so gut es geht, aber ich kann ihm nicht so viel Zeit widmen wie Roger. Das Hauptziel ist, dass er ein optimales Setup findet. In welche Richtung dieses gehen wird, ist noch nicht klar.
smash/ mk