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«Ich schoss gelegentlich über das Ziel hinaus»

1990 gewann sie EM-Bronze über 1500 Meter. Drei Jahre zuvor wurde Sandra Gasser positiv auf Doping getestet. An diesem Mittwoch wird die Bernerin 60 Jahre alt. Zeit für ein ausführliches Gespräch.

Wer ist Sandra Gasser?
Sie ist ein Mensch wie alle anderen auch, mit verschiedenen Rollen und Eigenschaften. Einmal treten die einen, ein anderes Mal die anderen in den Vordergrund. Unmöglich, diese Frau in einem Satz zu beschreiben. Manchmal staune ich selber über mich. (lacht)

Was machen und wer sind Sie heute?
Puh! Ich bin immer noch sportfanatisch, bestreite aber keine Wettkämpfe mehr. Dafür zeige ich als Trainerin jungen Athletinnen und Athleten, wie man ans Ziel kommt. Klar, Voraussetzungen sind Talent und der Wille zur Leistung. Ich zeige ihnen, wie sie ihr Potenzial ausschöpfen können und freue mich über ihre Fortschritte.

In welchem Alters- und Leistungsspektrum bewegen sich Ihre Schützlinge beim STB, beim Stadtturnverein Bern?
Sie sind zwischen 16 und 25 Jahre alt. Die einen laufen auf einem guten regionalen oder nationalen Niveau, einer hat an der U18-EM Bronze gewonnen und zwei werden an der U20-WM teilnehmen.

Wie sieht Ihr Leben ausserhalb des Sports aus?
Da bin ich Mami und Ehefrau, auch noch irgendwie … (lacht) Unsere Tochter zieht morgen aus und für eine Mutter bedeutet das, loslassen zu müssen. Eine grosse Herausforderung, die mir Respekt einflösst.

Wie gehen Sie mit ihr um?
Ich lebe sehr im Jetzt und versuche, mich an kleinen Dingen zu erfreuen. Ich besitze die Gabe, immer die positive Seite zu sehen. Ich möchte glücklich sein und weiss: Niemand ausser mir selbst ist für mein Glück verantwortlich.

Was bedeutet Ihnen das Laufen?
Zu meiner aktiven Zeit wollte ich vor allem schnell laufen. Das ist ein wahnsinnig schönes Körpergefühl. Das kann ich jetzt nicht mehr. Heute geht es mir um das gute Gefühl nach dem Laufen. Man ist zufrieden, denn man hat sich etwas Gutes getan.

Leiden Sie unter Nachwirkungen des Spitzensports?
Obwohl ich Rückenprobleme habe, beantworte ich diese Frage ganz klar mit Nein. Ein Spezialist hat mir bestätigt, dass diese genetisch bedingt sind. Ich gehe nur noch jeden zweiten Tag joggen und nur etwa 45 Minuten. Meine Devise lautet nicht mehr «je länger, je besser», sondern «überhaupt». Man wird bescheiden. (lacht)

Wie wichtig war der sportliche Erfolg für die Entwicklung Ihres Selbst­bewusstseins?
Es wäre interessant, was aus mir geworden wäre, wäre ich nicht mit dem Sport in Berührung gekommen. Vermutlich wäre ich eine ganz andere Person geworden. Der Sport formt dich. Er lehrt dich, Stärken und Schwächen zu erkennen und mit ihnen umzugehen.

Wo lagen die bei Ihnen?
Die Stärke ist immer auch die Schwäche. Meine Stärken waren sicher meine Konsequenz, Beharrlichkeit und mein zweihundertprozentiger Einsatz. So schoss ich gelegentlich über das Ziel hinaus, machte zu viel, war zu verbissen, zu wenig locker.

Welches war für Sie der erste Höhepunkt Ihrer Karriere? Der 800-Meter-Schweizer-Rekord, der von 1987 bis 2015 Bestand hatte?
Nein, mein erster grosser Erfolg war, als ich mit vierzehn Jahren Schweizer Meisterin wurde. Das fühlte sich ebenso toll an wie 1987, als ich WM-Dritte über 1500 Meter geworden war.

Wie haben Sie reagiert, als der anschliessende Dopingtest positiv ausfiel?
Zuerst nahm ich das nicht ernst, denn ich wusste, dass es unmöglich war. Dann wuchs die Erkenntnis, dass es sich tatsächlich um meine Probe handeln musste. Zum Glück stand mir ein Experte zur Seite, der herausfand, dass das Labor in Rom Fehler gemacht hatte, dies es nicht eingestehen wollte, weil es das positive Resultat vorschnell kommuniziert hatte. So klagte ich an einem Zivilgericht in London gegen den internationalen Leichtathletikverband, um zu meinem Recht zu kommen und meine Ehre wiederherzustellen – und verlor, weil der Richter nicht genügend kompetent war. Immerhin führten die diversen Mängel in der Dopingkontrolle, die durch meinen Fall sichtbar wurden, zu einer Änderung der Abläufe.

Wie haben Sie Ihre zweijährige Sperre verkraftet?
Ich habe mir zuerst ernsthaft die Frage gestellt, ob ich in diesem Klima des Misstrauens weiterhin Sport treiben will. Da ich immer noch gerne schnell rannte und mir diese Freude nicht nehmen lassen wollte, sagte ich mir: «Denen zeige ich es!» Und tatsächlich ist es mir mit der Bronzemedaille über 1500 Meter an der EM 1990 auch gelungen.

Was geben Sie dem Nachwuchs mit auf den Weg?
Die Jungen stecken sich heute sehr früh sehr hohe Ziele. Als Trainerin versuche ich sie, auf den Boden der Realität zurückzuholen, mit ihnen zusammen altersgerechte Ziele zu definieren und ihnen zu vermitteln, dass es gilt, den Moment zu geniessen und nicht bereits zwei Schritte vorauszudenken. Ich spreche dabei aus eigener Erfahrung.

Sie trainieren im Leichtathletikstadion gleich neben dem Wankdorf. Haben Sie auch etwas für Fussball übrig?
Ich hatte eine Saisonkarte, bis ich feststellte, dass YB jeden Herbst eine neue Mannschaft hat. Da mir der Bezug zum Sportler wichtiger ist als zum Klub, besuche ich seither nur noch einzelne Spiele.

Was haben Sie am 27. Juli vor?
(Schmunzelt) Nichts Besonderes! Für mich ist es ein Tag wie jeder andere auch. Das habe ich auch meinem Umfeld so kommuniziert. Gegen ein schönes Abendessen habe ich nichts einzuwenden, aber Halligalli entspricht mir nicht. Ich habe keinen runden Geburtstag besonders gefeiert, nicht mal den zwanzigsten. Mein Mann denkt sich jedoch meistens etwas Besonderes aus. Seine Überraschungen liebe ich!

Reinhold Hönle

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