Obwohl die offene Drogenszene in der Stadt Bern seit über 30 Jahren nicht mehr existiert: Das Problem der Suchtmittelabhängigkeit ist damit nicht vom Tisch. Rahel Gall, Geschäftsleiterin der Stiftung Contact in Bern, geht die Arbeit nicht aus.
Contact besteht nun seit 50 Jahren. Von «Feierlaune» zu sprechen ist wohl in diesem Fall etwas fehl am Platz?
(Lacht) Ja, unser Ziel wäre eigentlich, uns abzuschaffen! Aber im Ernst: Die Realität sieht halt anders aus. Wir dürfen durchaus auch stolz sein, was wir in diesen 50 Jahren erreicht haben. Wir müssten fragen: Wie wäre es, wenn es uns in den letzten 50 Jahren nicht gegeben hätte? Da müsste man wohl davon ausgehen, dass es noch mehr Suchtmittelabhängige und mehr Leid gäbe. So gesehen dürfen wir schon ein bisschen feiern.
Heute basiert die Suchtpolitik auf den vier Säulen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Wann und warum hat der Kanton Bern entschieden, dass die Stiftung Contact nur noch für die Säule «Schadensminderung» zuständig sein soll?
Bis 2014 hatte Contact noch sechs Beratungsstellen, die zu der Säule Therapie gezählt werden. Aufgrund von Sparmassnahmen und der Übergabe dieser Beratungsstellen an die Stiftung Berner Gesundheit fiel rund ein Fünftel des Organisationsvolumens weg. Fachlich wurde Contact damit zum Kompetenzzentrum für Schadensminderung im Kanton Bern.
Wie wurde dieser Entscheid damals aufgenommen?
Im Moment dieses Entscheids der Gesundheits- und Fürsorgedirektion wurde dieser Schritt sicher bedauert, denn es entfiel ein bedeutender Teil unserer Organisation. Rückblickend sehen wir das heute etwas anders. Die Fokussierung auf die Schadensminderung hilft uns heute. Contact hat ein klares Profil und ein klares Statement. Das widerspiegelt sich in unseren Angeboten, welche die Schadensminderung zum Ziel haben. Und diese ist weiterhin nötig, denn es wird immer Menschen geben, die Suchtmittel konsumieren.
In Ihrem Jubiläumsfilm erwähnen Sie, dass Contact früher «deutlich wilder aufgestellt» war. Was heisst das konkret?
Die 80er- und 90er-Jahre waren in der Tat wilde Zeiten bezüglich der Suchtmittelproblematik. Alle wussten, dass etwas gemacht werden musste, aber nicht so recht wie. Diese Unsicherheit führte zu unterschiedlichen Handlungen: Man verabreichte zum Beispiel saubere Spritzen, obwohl dies noch keine allgemein anerkannte Lösung war. Vieles wurde auf eigene Faust ausprobiert, oft ohne Absprache mit anderen Stellen. Man bewegte sich in einem Graubereich. Das Fachwissen war zwar vielerorts vorhanden, aber es fehlte die Erfahrung. Die Idee der Schadensminderung war noch nicht geboren. Ich denke beispielsweise an den Konsumraum, wo die Abhängigen kontrolliert ihre Substanzen einnehmen konnten und dadurch bei einem risikoarmen Konsum unterstützt wurden. Das war damals revolutionär. Vieles, was vor 40 Jahren wild ausprobiert wurde, ist heute integrativer Bestandteil unseres Angebots. Heute sind die Ideen professionalisiert, etabliert, strukturiert und die Arbeiten laufen koordiniert ab.
Welche Entwicklung haben Sie seit Ihrer Anstellung 2010 bei der Stiftung Contact erlebt?
Es ist uns sicher gelungen, uns trotz der heterogenen Angebote zu einer Gesamtorganisation mit einer Identität zu entwickeln, dies beispielsweise durch professionelle, intensive Kommunikation, durch verstärkte Koordination zwischen unseren Angeboten. Dann gab es neue Angebote wie zum Beispiel unser Take-Away-Restaurant hier an der Monbijoustrasse 70 mit der Arbeitsintegration für junge Erwachsene im Gastrobereich. Weiter haben wir im 2020 einen zweiten LOLA-Laden im Mattenhofquartier eröffnet, das Cannabis-Testing eingeführt und das Drug Checking in den letzten zehn Jahren stark gefördert und etabliert.
Welche Drogen wurden vor 50 Jahren, welche heute am häufigsten konsumiert?
In den 80er- und 90er-Jahren hatten Heroin und Opioide «Hochsaison». In den Nullerjahren kamen dann aufputschende Substanzen wie Kokain und Ecstasy dazu und Heroin war tendenziell am Abnehmen. Die jeweils am häufigsten verwendete Substanz ist zugleich immer auch ein Abbild der Gesellschaft. Seit etwa 15 Jahren will man nicht nur bei der Arbeit viel leisten, sondern auch bei der Party fit sein und mithalten können.
Die offene Drogenszene im Kocherpark gibt es seit 31 Jahren nicht mehr. Wo halten sich die Süchtigen heute auf?
Sie sind teilweise bei uns in den Angeboten. Sie arbeiten in einem unserer Produktions- und Dienstleistungsbetriebe, was ihnen Struktur und Sinnhaftigkeit bietet, aber auch den öffentlichen Raum entlastet. Die Einführung der Schadensminderung, die Einführung der kontrollierten Heroinabgabe und der Methadonverschreibung brachten diesen Erfolg. Diese Massnahmen geben den Suchtmittelabhängigen Stabilität und erlauben ihnen, ein möglichst uneingeschränktes Leben zu führen.
Durch das Verschwinden der sichtbaren offenen Drogenszene ist das Problem jedoch nicht vom Tisch…
Genau. Die Bedürfnisse unserer Klientel sind in unserer Gesellschaft nicht mehr sichtbar. Die Sensibilität, dass es trotzdem viele Suchtmittelkranke gibt und daher die entsprechenden Schadenminderungsangebote benötigt werden, ist gesunken. Unsere Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit wird daher wichtiger denn je.
Welche konkreten Projekte stehen an für die Stiftung Contact?
Es ist zwar nicht ein riesiges Projekt, aber was für uns permanent wichtig ist: Am Puls der Zeit zu sein. Welche Entwicklungen, Veränderungen gibt es? Dann gilt es schnell zu reagieren. Zurzeit gibt es wieder eine leichte Zunahme von Opioiden. Dort beobachten wir, ob es sich nur um einen temporären «Hype» oder um eine grössere Entwicklung handelt und wir unsere Angebote entsprechend anpassen.
Peter Widmer
PERSÖNLICH
Rahel Gall wurde 1972 geboren und ist in Bettingen BS aufgewachsen. Bereits während des Studiums zur Sozialarbeiterin führte sie Befragungen zur Heroinabgabe durch. Nach dem Lizenziat arbeitete sie u. a. für das Bundesamt für Gesundheit BAG. 2010 stiess sie zu CONTACT als Regionalleiterin Oberland, seit 2016 ist sie Geschäftsleiterin. Rahel Gall ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt im Liebefeld.