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«Auch im Bioladen bleiben die unförmigen Rüebli liegen»

Lebensmittelverschwendung nehme in der Landwirtschaft ihren Anfang, sagt Karin Spori von foodwaste.ch. Zudem sei das Problem mit unförmigem Gemüse keine Erfindung der Supermärkte.

Wie schlimm steht es um Food Waste in Bern?
Über die gesamte Lebensmittelkette gesehen landet jedes rund dritte Produkt im Abfall. Würde eine private Firma so wirtschaften, wäre sie innerhalb kürzester Zeit bankrott. Daran wird deutlich, dass hier ein Systemfehler vorliegt.

Was bedeutet das in Zahlen?
Bernerinnen und Berner geben pro Person und Jahr durchschnittlich 620 Franken für Lebensmittel aus, die sie aber nie essen respektive wegwerfen. Auf die gesamte Stadtberner Bevölkerung hochgerechnet sind das jährlich gut 88 Millionen Franken. Mit diesem Geld liesse sich übrigens viereinhalb Monate lang der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub der ganzen Schweiz bezahlen.

Ausserdem haben Sie errechnet, wie viel Food Waste pro Tag in der Stadt Bern anfällt.
Es sind zirka 45 Tonnen. Wie gesagt: pro Tag.

Was sind Ihre Erfahrungen mit den Bernerinnen und Bernern, wenn Sie sie darauf ansprechen?
Interessanterweise wissen fast alle um das Problem, doch kaum jemand sieht die Ursache bei sich. Erst wenn einige von ihnen dann ein Food-Waste-Tagebuch führen, dämmert ihnen, wie viel da effektiv im Ghüder landet.

Wieso schmeissen wir überhaupt so viel weg? Kaufen wir falsch ein?
Das ist einer der Gründe, ja. Das Problem beginnt allerdings bereits in der Landwirtschaft mit krummen Rüebli oder zu kleinem Brokkoli, die nicht der Norm entsprechen. In der Gastrobranche wiederum «müssen» die Buffets stets gefüllt sein, Restaurants bieten fünfzehn statt fünf Menüs an. Im Handel schliesslich dürfen aus bekannten Gründen die Regale nie leer sein. Die grosse Herausforderung bei all dem ist, dass dort, wo Food Waste anfällt, kaum je die Leute in der Verantwortung stehen, die darüber entscheiden. Mit anderen Worten: Der Bauer würde seine krummen Rüebli natürlich lieber verkaufen, der Handel sagt ihm hingegen, diese dürften schwierig abzusetzen sein.

Um bei den krummen Rüebli zu bleiben: Das Ünique-Angebot von Coop ist arg begrenzt.
Sie sprechen die Huhn-Ei-Frage an: Kann ich als Konsumentin keine unförmigen Rüebli posten, weil es am Angebot fehlt – oder fehlt es am Angebot, weil die Leute solche Produkte nicht wünschen? Fairerweise muss man erwähnen: Die Sache mit den krummen Rüebli ist keine Erfindung des Detailhandels. Ich besuchte kürzlich einen Bioladen; sogar jene Rüebli, die dort liegengeblieben sind, waren die ganz grossen und die ganz kleinen, sprich die «Unförmigen».

Nun bringt die Natur halt nicht bloss gerade, uniforme Rüebli hervor.
Richtig! Deswegen planen Bäuerinnen und Bauern von Anfang an eine Überproduktion ein. Einerseits, weil sie nur die schönsten Produkte verkaufen können, und andererseits, damit sie auch bei einer schlechten Ernte noch genug Top-Ware liefern können. Wenn sie die hohen Anforderungen einmal nicht ganz erfüllen, müssen sie nämlich mit einer finanziellen Einbusse rechnen.

Wie lässt sich das Food-Waste-Problem in einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft überhaupt lösen?
Wenn ich die perfekte Lösung zur Hand hätte, wäre ich eine reiche Frau (lacht). Im Ernst: Es braucht einerseits lokale Initiativen, um aufzuzeigen, welche Mengen von Nahrungsmitteln überhaupt verschwendet werden. Andererseits müssen wir branchenübergreifende Lösungen finden.

Das heisst?
Der Handel darf nun beispielsweise mehr Ware anbieten, die über dem Mindesthaltbarkeitsdatum liegt. Diese Rahmenbedingung wurde erst gerade dank eines neuen Leitfadens gelockert und muss zuerst in die Köpfe der Anbieter wie auch in jene der Konsumentinnen und Konsumenten. Foodwaste.ch hat bei der Erarbeitung von erklärenden Grafiken mitgearbeitet (mehr Infos dazu in der Box rechts). Und wir müssen die Akzeptanz fördern, dass Rüebli halt krumm sein dürfen. Eine andere Rahmenbedingung könnte sein, Grossverteiler, die überschüssige Ware spenden, als Anreiz steuerlich zu entlasten. Denn derzeit ist es oft so, dass es günstiger ist, solche Produkte zu entsorgen, statt sie im Laden neu deklariert anzubieten.

Wer kurz vor Ladenschluss einkauft, erhält Fleisch, Brot oder Salat oft zur Hälfte des ursprünglichen Preises angeboten. Bewahrt man damit Gipfeli und Schnitzel vor dem sicheren Containertod oder wird damit bloss das System unterstützt?
Eine schwierige Frage, die wir im Team ebenfalls schon häufig diskutiert haben. Grundsätzlich lässt sich sagen: Kaufe ich vor Ladenschluss ein reduziertes Lebensmittel mit einem Verbrauchsdatum – also «zu verbrauchen bis» –, welches an dem Tag abläuft, vermeide ich Food Waste. Das ist dann eine ernst gemeinte Food-Waste-Vermeidungsstrategie der Händler und keine Marketing-Aktion. Eine andere Möglichkeit wäre, in kleineren Läden, auf dem Märit oder auf dem Bauernhof einzukaufen oder sich einem Gemüseabo anzuschliessen. Damit man wieder einen direkteren Bezug zum Ursprung der Lebensmittel bekommt. Der Claim von foodwaste.ch lautet ja: aus Liebe zum Essen. Wir sollten unsere Lebensmittel wieder mehr wertschätzen. Und wer etwas wertschätzt, schmeisst es nicht einfach so weg.

Müssten wir nicht auch häufiger gesunden Menschenverstand walten lassen? Ein Joghurt ist problemlos noch Tage nach dem aufgedruckten Datum essbar.
Absolut, denn die Ausprägung der menschlichen Sinne ist älter als jedes Datum. Rechtlich spricht übrigens nichts dagegen, dass Supermärkte Produkte mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum ins Sortiment aufnehmen. Sie müssen sie bloss entsprechend kennzeichnen, die Kundschaft darf nicht getäuscht werden.

Wobei es einen grossen Unterschied zwischen «mindestens haltbar bis» und «zu verbrauchen bis» gibt.
Richtig. Das Mindesthaltbarkeitsdatum, kurz MHD, hat nichts mit der Lebensmittelsicherheit zu tun – es sagt nur etwas über seine sensorische Qualität. Ein Lebensmittel mit einem MHD kann im Lauf der Zeit seine Konsistenz oder seine Farbe verändern, ist gesundheitlich aber unbedenklich. Ist ein solches Produkt ungeniessbar geworden, zum Beispiel Frischkäse, kann man das riechen oder schmecken – und man entsorgt es. «Zu verbrauchen bis» darf hingegen nach Ablauf des Datums nicht mehr in den Regalen stehen, weil gesundheitsschädliche Mikroorganismen entstehen können. Dank des neu erarbeiteten Leitfadens dürfen dafür geeignete Lebensmittel am Tag des Verbrauchsdatums neu aber eingefroren und noch weiter abgegeben werden!

Was kann ich konkret tun, um den eigenen Food Waste zu reduzieren?
Man kann vor dem Einkauf ein Foto seines Kühlschranks machen, so entfällt gleichzeitig die Shoppingliste. Es ist sofort ersichtlich, was fehlt. Oder: Ist es sinnvoll, einen Wochenendeinkauf zu tätigen, wenn ich kaum zuhause bin? Habe ich wirklich Lust auf eine 2-für-1-Crèmeschnittenaktion?

Und zuhause?
Hier ist die optimale Lagerung gefragt. Der jüngere Artikel kommt nach hinten, der ältere nach vorne. Ein guter Tipp: durchsichtige Tupperware verwenden. So sieht man, was sich darin befindet. Manche schaffen in ihren Kühlschränken ausserdem «Parkplätze»; bestimmte Bereiche, wo sich Essen befindet, das bald abläuft.

Und schliesslich beim Kochen?
Richtig portionieren. Lieber etwas zu wenig als zu viel zubereiten, eventuell ein Kochbuch zurate ziehen. Ausser es ist klar, dass man die Portion am nächsten Tag im Büro aufwärmen kann. Und dann empfehle ich natürlich das Buch «Restenlos glücklich» Bern mit kreativen Rezepten.

Sind wir in der Schweiz insgesamt auf einem guten Weg?
Schön wärs. Grobe Schätzungen zu Food Waste existieren erst seit 2011; ein Monitoring, das die Entwicklung aufzeigen kann, ist erst in Erarbeitung. Vermutlich steigt der Abfallberg immer noch an.

Wie viel landet bei Ihnen im Ghüder?
Ab und zu Brot. Und infolgedessen hin und wieder Konfitüre. Leider. Immerhin: Ich arbeite daran (lacht).

Müssen wir wegen Food Waste ein schlechtes Gewissen haben?
Ein Luzerner Hotel hat seine Gäste mit Hinweisschildern darauf aufmerksam gemacht, dass sie doch nur so viel auf den Teller laden sollen, wie sie auch essen können. Es habe genug von allem und man dürfe jederzeit Nachschub holen gehen. Es konnte so die Tellerreste um die Hälfte reduzieren – ohne bei jemandem ein schlechtes Gewissen zu verursachen!

Yves Schott

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