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Auch in Bern kommt es immer wieder zu Zwischenfällen

Ein Sturm auf das Rathaus erscheint wenig plausibel. Störaktionen hingegen sind dort keine Seltenheit. Ein nicht ganz Unbekannter verfolgte sogar schon die Kantonsärztin.

Es sind Bilder, die die Welt nicht so schnell vergessen wird: Wut- entbrannt stürmen Hunderte Trump-Anhänger, angestachelt von ihrem Präsidenten, am 6. Januar das Kapitol in Washington. Scheiben werden eingeschlagen, Polizisten angegriffen, rechtsextreme Parolen gebrüllt. Das Zentrum der Demokratie versinkt im Chaos. Die blutige Bilanz: fünf Todesopfer, über 50 Verletzte.
Solche Szenen sind bei uns nur schwer vorstellbar. Zum Glück. Die Hauptstadt – ein wohlbehütetes, friedliches Nest. Und doch stellt sich die Frage: Wie gut wären Berns Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Ernstfall geschützt?
Der reibungslose Ablauf des Parlamentsbetriebs obliegt generell dem jeweiligen Veranstalter, sprich: Gross-, Regierungs- oder Stadtrat, wobei letzterer nur Untermieter ist. Sollte es zu einem Terroranschlag kommen oder probiert ein wilder Mob, ähnlich wie in Washington, das Gebäude zu stürmen, rückt die Kantonspolizei aus. Wie ein solcher Einsatz aussieht, möchte sie nicht preisgeben: «Selbstverständlich sind für verschiedene Szenarien Eventualplanungen vorhanden und die ordentlich eingeübten Prozesse kommen im Ereignisfall zum Tragen», heisst es auf eine Anfrage des Bärnerbär.

Drei Beamte in der Bernexpo
Etwas detaillierter äussert sich Bar-bara Nyffeler. In ihrer Funktion als Stadtratspräsidentin ist sie zusammen mit dem Stadtratsbüro für die Sicherheit der Volksvertreter zuständig. Wer das Rathaus während einer Debatte oder Session betreten möchte, muss klare Regeln einhalten: «Politikerinnen und Politiker haben ohne ihren persönlichen Badge keinen Zutritt, Besucher müssen sich zuvor anmelden und werden auf einer Liste geführt. Die Kontrolle erfolgt durch die Securitas.» Grössere Gepäckstücke sind verboten, zudem werden Politiker und Gäste bereits beim Eingang in verschiedene Richtungen getrennt.
Aufgrund der Corona-Pandemie tagt Berns Parlament momentan in Halle 4.1 der Bernexpo. Gemäss Nyffeler stehen dort derzeit drei Securitas-Beamte im Einsatz. Sie befinden sich im Eingangsbereich, passen auf und triagieren die eintreffenden Personen. Ein Attentat hält Nyffeler für wenig wahrscheinlich: «Dafür hat der Stadtrat zu wenig Symbolkraft, ausschliessen lässt sich allerdings nie etwas. Verwirrte Zeitgenossen gibt es überall.»
In der Schweiz verhalten diese sich in der Regel harmlos. Oder es steckt Kalkül dahinter. Und so sind Störaktionen auch im Rathaus keine Seltenheit. Im Juni 2017 etwa kreuzten Juso-Aktivistinnen und -Aktivisten bei einer Grossratsdebatte auf der Tribüne mit Trillerpfeifen auf, um damit gegen einen möglichen Leistungsabbau zu demonstrieren. 2012 musste das Kantonsparlament seine Sitzung unterbrechen, weil Studierende mit der Anhebung der Uni-Gebühren nicht einverstanden waren. 2011 ermahnte die damalige Stadtratspräsidentin Vania Kohli (BDP) Reitschülerinnen und Reitschüler gleich mehrmals, sich ruhig zu verhalten.
Für den grössten Eklat in der jüngeren Stadtratsgeschichte sorgte indes der letztjährige Gemeinderatskandidat Stefan Theiler: Am Tag der Wahlen Ende November weigerte sich der 38-Jährige partout, im Saal eine Maske zu tragen, obwohl er mehrfach darauf hingewiesen wurde. Gleich mehrere Polizisten mussten eingreifen und Theiler, der zuvor schon mehrfach negativ aufgefallen war – er verfolgte und beschimpfte beispielsweise Kantonsärztin Linda Nartey –, zu Boden drücken, bevor sie ihn abführen konnten.
Die Aktion führt zu einer Grundsatzfrage: Ein einzelner Randalierer mag für die Beamten gut zu stemmen sein – aber was, wenn sich mehrere zusammentun, eine ganze Gruppe sich Zutritt verschaffen will? «Individuelle Ereignisse sind nur schwer antizipierbar», erklärt Sicherheitsdirektor Reto Nause. Mit anderen Worten: Komplett von seinem Vorhaben abhalten lässt sich ein krawallstiftender, einzelner Wutbürger nie.

Zahl von Hassmails nimmt zu
Ein Vorfall wie in der US-Hauptstadt sei allerdings etwas ganz anderes, führt der CVP-Gemeinderat aus. «Der Sturm aufs Kapitol hat sich abgezeichnet. Würde zum Marsch aufs Rathaus aufgerufen, könnte man schon im Vorfeld darauf reagieren und das Sicherheitsdispositiv entsprechend anpassen.» Gleichzeitig analysiert die Polizei laut Nause die Traktandenliste des Stadtrats im Vorfeld jeweils auf besonders emotionale Themen. «Gewisse Aktivitäten überraschen uns kaum, die haben wir auf dem Radar und treffen deshalb gewisse Vorkehrungen. Welche das sind, kann ich im Detail nicht verraten.»
Sind Berns Politiker im Rathaus also sicher? Grundsätzlich ja. Von wirren, wenn auch (meist) harmlosen Aktionen einmal abgesehen. Und vor allem darum, weil die Spaltung, die durch die amerikanische Gesellschaft geht und zu wüsten Aus-schreitungen führt, nicht einmal ansatzweise mit der Situation bei uns verglichen werden kann.
Dennoch bereiten Ereignisse wie jenes in den Vereinigten Staaten Poli-zeidirektor Reto Nause einiges Kopf-zerbrechen. «Natürlich sind die Zustände hier, international betrachtet, beinahe paradiesisch. Doch mit der Pandemie liegen die Nerven bei vielen Leuten je länger, je mehr blank.» So habe die Zahl von Hassmails in letzter Zeit deutlich zugenommen.
«Die Hemmschwelle, derb in die Tasten zu hauen, ist deutlich gesunken. Wer bei Facebook über gewisse Menschen herzieht, löst etwas aus. Was mit Worten beginnt, kann unter Umständen fatale Folgen haben – dem sind sich manche wahr-scheinlich nicht bewusst», analysiert Nause und mahnt zu mehr Vernunft, Verstand und Haltung: «Es braucht von allen eine neue Besonnenheit.»

Yves Schott

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