Die Studie der Entente Bernoise stellt dem Kanton Bern kein gutes Zeugnis aus. Der Bärnerbär hat Studienautor Raphael Karlen und Edith Siegenthaler, Co-Präsidentin der Stadtberner SP, an einen Tisch gebeten.
Wohnen Sie gerne in Bern?
Edith Siegenthaler: Ja, sehr sogar!
Raphael Karlen: Absolut. Ich bin im Breitsch aufgewachsen und möchte eigentlich in der Stadt bleiben.
Das ist nicht selbstverständlich. Denn die befragten Wirtschaftsführer geben dem Kanton im Bereich Steuern die Note 3,2 und sagen: Die hohe Steuerbelastung führt zu ungewollten Pendlerströmen.
Siegenthaler: Es ist sicher nicht die Steuerlast, die zum Pendeln in die Stadt Bern führt. Sie hat im Vergleich zu anderen Gemeinden keinen hohen Steuersatz. Vielmehr liegt es daran, dass es, im Gegensatz zum Oberaargau etwa, zu wenig bezahlbare Wohnungen gibt. Es herrscht Wohnungsnot in der Stadt Bern. Das führt dazu, dass die Menschen in die Agglomeration ziehen. Deswegen muss die Stadt den gemeinnützigen Wohnungsbau fördern und für mehr bezahlbare Wohnungen sorgen.
Karlen: Die hohe kantonale Steuerbelastung wird sich noch weiter verschärfen, da umliegende Kantone wie Solothurn oder Freiburg ihre Steuersätze nächstes Jahr tendenziell senken werden. Was die Stadt anbetrifft, hat Bern im Vergleich zu Zürich oder Genf immer noch moderate Mietzinse und relativ viel freien Wohnraum. Was wir aber nicht selten feststellen ist, dass es sehr wohl genügend freien Wohnraum gibt, er aber besser erschlossen sein müsste. Häufig werden neue Wohnungen für Familien gebaut, in der Nähe fehlt jedoch ein Kindergarten oder eine Schule. Da wünschen wir uns eine bessere und intensivere Zusammenarbeit mit den Behörden.
Siegenthaler: Punkto Schulraum dürfte die Stadt durchaus etwas an Weitsichtigkeit zulegen, das stimmt.
Mit der Erschliessung liefern Sie ein gutes Stichwort: Die städtische Verkehrspolitik sorgt bei den Bürgerlichen regelmässig für rote Köpfe.
Siegenthaler: Das Gewerbe steht in einem harten Konkurrenzkampf mit dem Online-Handel. Umso mehr ist es auf eine attraktive Umgebung angewiesen. Denn was macht das «Lädele» so schön? Es ist die Möglichkeit, von Laden zu Laden spazieren zu können und zwischendurch mal einen Kaffee zu trinken – aber sicher nicht, direkt mit dem Auto vor das Geschäft zu fahren. Deswegen liegt für mich die Zukunft des Gewerbes in einer verkehrsberuhigten Innenstadt mit Flaniermöglichkeiten.
Karlen: Die städtische Verkehrspolitik war nicht Teil dieser Studie. Aber, Sie haben Recht, es wird in diesem Zusammenhang zu oft Links-Rechts- Bashing betrieben. Nun, die Infrastruktur ist mit 5.0, also ziemlich gut, benotet – sie müsste meiner Ansicht nach aber viel besser gemanagt werden. Viel zu viele Autofahrerinnen und Autofahrer etwa suchen nach wie vor mit hohem Aufwand nach freien Parkplätzen, obwohl das in der heutigen Zeit massiv cleverer und effizienter gesteuert werden könnte.
Ein Fazit der Studie lautet: «Wir verkaufen uns zu schlecht.» Würden Sie diesen Satz unterschreiben?
Siegenthaler: Der Kanton wird weiterhin, vielfach zu Unrecht, als bäuerlich-träge wahrgenommen, obwohl Bern der grösste Industriekanton ist. Die Stadt empfinde ich hingegen als äusserst dynamisch.
Karlen: Die Stadt ist aktiv, das sage auch ich als Liberaler. Aber wir benötigen klare Strategien. So schlagen wir als Entente Bernoise etwa vor, im Herzen dieses Industriekantons eine führende Uni oder eine entsprechende Fachhochschule mit klarer Themenführerschaft zu beherbergen. Bern könnte neben Zürich und Lausanne zu einem dritten ETH-Standort werden.
Ein weiteres Ärgernis stellt gemäss Befragung die gestiegene Anzahl von Verordnungen und Gesetzen dar. SP und Grüne wirken hier häufig etwas gar übermotiviert.
Siegenthaler: Es braucht Regulierungen, auch zum Schutz jener, die am kürzeren Hebel sitzen. Nur so haben alle gleich lange Spiesse. Natürlich müssen Regulierungen der Zeit angepasst werden. Eben erst haben wir im Stadtrat eine Gebühr für gewerbliches Teppichklopfen aufgehoben, die heute nicht mehr nötig ist. (lacht) Ausserdem steht in der Studie, dass Leitplanken sehr wohl erwünscht seien. Da frage ich mich, was denn der Unterschied zwischen Leitplanken und Regulierungen sein soll.
Sie verlangen Leitplanken, aber keine Regulierungen. Ein Widerspruch!
Karlen: Was die Unternehmen erwarten, ist Rechtssicherheit. Und sie wünschen sich Worttreue von der Verwaltung. Zum möglichen Widerspruch mache ich Ihnen ein Beispiel: Insgesamt sollte die Anzahl an Gesetzen gleichbleiben und jeder Artikel, den man einführen will, einer kritischen Kontrolle unterzogen werden. Dazu bedarf es nicht zuletzt mehr Unternehmer in den einzelnen Verwaltungen.
Nennen Sie uns doch noch zwei Dinge an Bern, die Ihnen enorm gut gefallen – und zwei, bei denen Sie den Kopf schütteln.
Siegenthaler: Wie der öffentliche Raum gemütlicher gestaltet wird, gefällt mir sehr. Die neuen Bänkli oder die Pop-ups. Und ich bin froh über die Verbesserungen bei der Veloinfrastruktur. Unbedingt nötig sind mehr bezahlbare Wohnungen. Und vor allem bezahlbare Kita-Plätze. Hier will der Kanton tendenziell weniger Geld ausgeben.
Karlen: Toll an Bern ist die Nähe zur Westschweiz sowie die Lebensqualität insgesamt. Aufholbedarf sehe ich bei längerfristigen, grösseren Standortprojekten. Hier braucht es Verantwortliche, welche mit der Fahne vorausrennen, wie das etwa bei sitem-insel der Fall war. So etwas erhoffe ich mir für die hiesige Start-up- und Digitalisierungsszene, für die ich mich stark engagiere. Und ich möchte, dass das offene Chancenpotenzial der Zweisprachigkeit im Kanton Bern besser genutzt wird.
Der Titel der Studie lautet: «Die Bedürfnisse der Berner Wirtschaft». Welches ist Ihr erstes Bedürfnis, wenn Sie nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen?
Siegenthaler: An den Küchentisch sitzen und etwas essen. (lacht)
Karlen: Ich geniesse die Ruhe in unserem Garten. Sie wird manchmal von Fluglärm unterbrochen, der in mir wiederum das Fernweh erweckt und zeigt, dass Bern doch internationalen Charakter besitzt. (lacht)
Yves Schott