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«Das Worst-case-Szenario sah deutlich schlimmer aus»

SP-Regierungsrat Christoph Ammann erklärt, wie Corona den Arbeitsmarkt beeinflusst hat. Und warum die steigenden Corona-Zahlen überhaupt kein Grund zur Hektik sind.

Vor einigen Tagen wurden die neuen Arbeitslosenzahlen des Kantons Bern publiziert. Die Quote liegt bei 2,2 Prozent. Ein überraschend guter Wert.

Die staatliche Unterstützung hat gewirkt, ich denke da vor allem an die Kurzarbeitsentschädigung. Damit konnten die meisten Betriebe über Wasser gehalten werden. Ergänzend dazu wirkte die Härtefallhilfe stabilisierend. Und nun nahm auch die Wirtschaft deutlich Fahrt auf.

Trotzdem: Hätte Ihnen jemand vor einem Jahr solche Zahlen präsentiert, hätten Sie diese ohne zu zögern unterschrieben.

Definitiv. Das Worst-case-Szenario sah deutlich schlimmer aus.

Ist die Lage dort am heikelsten, wo man es allgemein vermutet? In der Gastronomie, Hotellerie und bei den Events?

Im Gastgewerbe beträgt die Zunahme der Arbeitslosenquote im Vergleich zum Vorjahr 60 Prozent, in absoluten Zahlen sind das 500 Personen. In der Papier- und Druckereibranche beträgt der Anstieg sogar 70 Prozent, weil die Aufträge, etwa zum Produzieren von Broschüren, ausblieben. Ein ähnlich hoher Wert zeigt sich in der Uhrenindustrie.

Weil Luxusartikel in der Krise nur selten gefragt waren?

Im Gegenteil: Top-Brands schreiben bombastische Zahlen. Es sind eher die Marken aus dem mittleren und tieferen Preissegment, die einen Einbruch verzeichnen. Das hat mit dem Ausbleiben von ausländischen Gästen, gerade jene in Gruppen aus dem asiatischen Raum, zu tun.

Ein Wort zur Hotellerie in der Stadt Bern?

Sie hat es enorm schwer, da sie auf Business-Kunden ausgerichtet ist. Auch Bern Welcome als Vermarkterin kämpft mit grossen Schwierigkeiten. Umgekehrt gibt es in der gleichen Branche Anbieter, die sich schon vor Corona auf Schweizer Gäste spezialisiert hatten und deshalb einen Boom erlebt haben. Dasselbe gilt für gewissen Angebote im Detailhandel: Die Nachfrage nach E-Bikes zum Beispiel ist regelrecht explodiert.

Folgt im Herbst wegen steigender Fallzahlen nun der nächste Dämpfer?

Zahlen kann ich Ihnen keine liefern. Klar ist: Die wirtschaftliche Entwicklung ist in jeder Hinsicht abhängig von der Durchimpfung der Bevölkerung.

Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg will sämtliche Massnahmen im Kanton Bern per Ende September aufheben.

Ich sowie die gesamte Regierung teilen seine Haltung: Im aktuellen Stadium der Pandemie können wir die Leute schützen, die Vakzine wirken selbst gegen die neuen Varianten. Wir halten es für falsch, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der grossen Mehrheit unserer Bevölkerung einzuschränken, wenn sich eine kleine Minderheit aus welchen Gründen auch immer nicht impfen lassen will. Die Lockerungen müssen beibehalten werden, wir können die Wirtschaft und unsere Bevölkerung nicht ein weiteres Jahr lang destabilisieren. Das alles immer unter dem Vorbehalt, dass keine neue Virusvariante auftaucht, die den Impfschutz umgeht.

Neuerliche Einschränkungen wird zudem der grösste Teil der geimpften Bevölkerung wahrscheinlich kaum mittragen.

Richtig. Dazu eine Anmerkung: Derzeit steigen die Zahlen wieder an, mancherorts wird bereits wieder von Verschärfungen gesprochen. Bei genauerer Betrachtung bieten die Zahlen, die massgeblich sind, hingegen überhaupt keinen Grund zur Sorge: Es liegen praktisch keine Corona-Patienten auf der Intensivstation und auch die Zahl der Hospitalisationen ist erfreulich tief.

Zurück zum Arbeitsmarkt: Hat die Pandemie einen Einfluss auf die Wahl der Berufslehre?

Sagen sich viele junge Menschen jetzt: Ich entscheide mich für einen Job, der garantiert krisenfest ist? Wir beobachten kurzfristige Reflexe: Wer die Chance hat, die Branche zu wechseln, nutzt diese. Das muss allerdings noch lange nicht auf eine langfristige Tendenz hindeuten. Generell ist die Wirtschaft sehr agil, die Menschen bewegen sich dorthin, wo Stellenangebote existieren.

Fälle, in denen sich Personen unter Wert verkauft haben und eine Arbeit begonnen haben, die ihnen nur bedingt zusagte, aber ein regelmässiges Einkommen sicherte, sind also die Ausnahme?

Eine Statistik dazu gibt es nicht. Ich persönlich kenne Menschen, die solch einen Wechsel für eine Übergangszeit vollzogen haben. Die allermeisten dürften ihrem Umfeld gleichwohl treu geblieben sein.

Stichwort Homeschooling: Gehören jene Kinder, deren Eltern zu den eher bildungsfernen Schichten zählen, zu den Verlierern dieser Krise, weil sie ihnen zuhause kaum bei den Aufgaben helfen konnten?

Da kann ich bloss als ehemaliger Rektor und Vater eine Einschätzung machen: Die Lerndefizite dürften bei den Jugendlichen aus bildungsschwächeren Familien und solchen, die eine engere Betreuung brauchen, grösser sein als bei anderen. Das war hingegen schon vor der Krise so und hat sich mit Homeschooling akzentuiert. Ich wäre jedoch vorsichtig, bereits von verlorenen Jahrgängen zu sprechen. Junge Menschen sind agil genug, um Defizite aufzuholen. Aber: Gewisse Jahrgänge werden wohl unter schwierigeren Voraussetzungen aus der Volkschule in die Weiterbildung oder ins Berufsleben einsteigen.

Hat Corona eigentlich zu jenem Digitalisierungsschub geführt, von dem häufig die Rede war?

Ja, und er ist noch nicht abgeschlossen. Selbst die kantonale Verwaltung, der manchmal eine gewisse Schwerfälligkeit nachgesagt wird, war praktisch ab dem ersten Tag des Lockdowns in der Lage, von zuhause aus zu arbeiten. Wir verfügten damals über digitale Voraussetzungen, die wir bis zum 16. März 2020 kaum genutzt hatten. Zu dem Zeitpunkt führte ich übrigens meine allererste Skype-Sitzung durch (lacht). Ich stellte fest, dass man ja in Alphütten oder am Strand Sitzungen abhalten kann – ohne Störungen.

Was raten Sie jenen Leuten, die bis dato nach wie vor keinen Job gefunden haben?

Es braucht noch etwas Geduld. Zum Glück fällt in der Schweiz niemand komplett durch die Maschen. Krisen passieren – doch die Wirtschaft wird wieder anziehen. Vor Corona befanden wir uns diesbezüglich auf einem Höchststand und ziehen nun stets Vergleiche zu dieser damals vorzüglichen Situation.

Also keine panikartigen Weiterbildungen buchen?

Nicht als Schnellschuss jedenfalls. Sicherlich, man muss agil bleiben. Als ich in die Berufswelt einstieg, ging ich davon aus, diese Tätigkeit ein Leben lang auszuführen. Das ist längst vorbei. Wer seine Chancen packt und den Optimismus nicht verliert, wird allerdings bald wieder einen Job finden, der Freude bereitet.

Yves Schott

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