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«Die Altersarmut steigt, die Politik hat versagt!»

Das Leben im Alter beschäftigt die Öffentlichkeit seit je her. Geht es um die Finanzierung, veranstaltet die Politik sogar einen regelrechten Märit. Dabei ist die Lage ernst: Nahezu 30 Prozent der älteren Menschen sind von Altersarmut betroffen.

Das Bundesamt für Statistik BfS weist die Armutsquote bei Personen ab 65 mehr als doppelt so hoch aus wie bei Erwerbstätigen. Deshalb wird die Altersvorsorge äusserst kontrovers diskutiert. Die Ansichten, wie Altersarmut zu verhindern sei, gehen diametral auseinander. Die Linke strebt eine 13. AHV-Rente an, Bürgerliche fordern ein höheres Rentenalter, Verfechter der reinen Privatwirtschaft würden die AHV am liebsten privatisieren – ihr Argument: Die 2. Säule sei efzienter. Eine soeben veröffentlichte Studie der Zürcher Hochschule ZHAW bestätigt das indirekt: Das Vertrauen der Bevölkerung in die AHV sinke, jenes in die Pensionskassen und 3. Säule steige. Und schliesslich gibt es jene, die darauf hinweisen, dass es den meisten Senioren ja gutgehe. Doch weil eine grosse Minderheit – gesamtschweizerisch fast eine Viertelmillion – im Pensionsalter nur dank Ergänzungsleistungen (EL) häb-chläb über die Runden kommt, bleibt die Frage im Raum: Ist unser Rentensystem wirklich gut? Das Gespräch mit den beiden Experten Marcel Schenk und Andrea Zanetti von Pro Senectute.

Wir sind ein reiches Land gibt es Altersarmut wirklich?
Marcel Schenk: Ja, die Zahlen sind deutlich. Von den 222 000 AHV-Rentnerinnen und -Rentnern im Kanton Bern beziehen 63 000 Ergänzungsleistungen.

Kann man es näher eingrenzen?
Andrea Zanetti: Von Altersarmut betroffen ist vor allem, wer schon vor dem Rentenalter ein tiefes Einkommen erzielte. Sowie viele von jenen, die in Pfegeheimen leben. Sehr hart trifft es ältere Jahrgänge, Menschen, die nicht oder kaum von der berufichen Vorsorge BVG – sie wurde erst 1985 eingeführt – proftieren können.

Gemäss Statistiken trifft es meist Frauen.
Schenk: Zu fast 70 Prozent! Da sie viel weniger erwerbstätig waren, haben sie Einkommenslücken und erhalten tiefere Renten. Ein demografscher Grund ist, dass Frauen eine höhere Lebenserwartung haben, mit steigendem Alter wächst ihr Anteil sehr stark an. Es zeige sich in der Realität, dass EL keine Zusatzrente, sondern eher eine Fürsorgemassnahme sind und die Altersarmut nicht wirklich beheben. Als Pfästerlipolitik sichern sie nur ein leicht erhöhtes Existenzminimum ab: Im EL-Budget eingerechnet sind nebst einer bescheidenen Miete und der Krankenkassenprämie der sogenannte «Lebensbedarf», und der ist alles andere als üppig. Mit dem Resultat, dass Altersarmut zunimmt. Nicht zuletzt aufgrund der Migration. Viele Migranten kamen in der Mitte des Erwerbslebens in die Schweiz und erhalten später aufgrund von weniger Beitragsjahren tiefe Renten. Die Experten stellen auch fest, dass sich die Altersarmut stark verschärft, wenn Betagte auf Pfege angewiesen sind. So sei ein Übertritt ins betreute Wohnen für EL-Beziehende fnanziell quasi unmöglich. Sie müssen sich ergo Plätze in Pfegeheimen suchen, wobei hier keine wirklich grosse Auswahl bestehe.

Aus Ihrer Sicht als Praktiker: Hat die Politik grundsätzlich die richtigen Rezepte?
Schenk: Nein. Wenn man sieht, dass die Altersarmut eher steigt, muss man feststellen, dass die Politik versagt. Das Gesetz für Ergänzungsleistungen ist zu einem Sozialhilfegesetz verkommen, ist nicht mehr als eine Überlebenshilfe. Zanetti: Ergänzungsleistungen waren mal eine Sozialversicherung wie die AHV, ohne Rückzahlungsbedingungen. Ab 2021 ist die Rückzahlung wieder aufgenommen. Und: Ein EL-Antrag ist nicht ganz einfach zu stellen. Schenk: Ergänzungsleistungen haben Darlehenscharakter. Nach dem Hinschied eines Bezügers müssen die Beiträge aus dem vererbten Vermögen, welches 40 000 Franken übersteigt, zurückbezahlt werden.

Hat das EL-System weitere Schwächen?
Zanetti: Abgesehen von der knappen Bemessung sagt die Tatsache, dass EL-Empfänger Steuern bezahlen müssen, alles. Es ist absurd, dass alte Menschen etwas an ein bescheidenes Budget erhalten, und dann mit Steuerrechnungen wieder nah ans betreibungsrechtliche Existenzminimum gezwungen werden. Schenk: Das ist wirklich unwürdig, eine Steuerbefreiung für EL-Bezügerinnen und -Bezüger würde unserem Kanton gut anstehen.

Befürworten Sie ein höheres Rentenalter für Frauen?
Schenk: Nein, das sind theoretische Planspiele. Ein höheres Rentenalter setzt entsprechende Beschäftigungsmöglichkeiten voraus. Zanetti: Der Arbeitsmarkt hat nicht die dafür benötigten Stellen. Allerdings befürworte ich eine Flexibilisierung, und zwar zu Bedingungen, dass frau davon anständig leben kann.

Welche Rolle spielt die Familie?
Schenk: Es ist sicher etwas vom Wertvollsten, wenn sich Angehörige einbringen. Schon allein mit ihrer Präsenz oder Unterstützung im Alltag: im Haushalt, bei Arztbesuchen, mit Einkäufen.

Was empfehlen Sie Jungen und Arbeitstätigen?
Zanetti: Junge sollen sich frühzeitig Gedanken machen, das Rentensystem verstehen. Wer schon in jungen Jahren monatlich etwas in die 3. Säule investiert, es muss ja nicht das Maximum sein, wird später dafür dankbar sein. Wichtig ist es, keine betragslosen AHV-Jahre zu haben, möglichst ununterbrochen zu arbeiten. Frauen sage ich: Gebt den Beruf nie auf, auch als Mütter nicht, sucht geeignete Arbeitsmodelle! Schenk: Es gibt manches, woran man denken sollte. Wer ein Eigenheim hat, soll sich hüten, alle Hypotheken abzuzahlen. Denn wer den Eigenmietwert versteuert, muss als Rentner wegen fehlender füssiger Mittel «Ziegel essen».

Woran ist besonders zu denken?
Zanetti: Mit 50 und sogar 60 kann man noch Weichen stellen. Mit Beiträgen in die Pensionskasse oder die 3. Säule, alles steueroptimiert. Am besten man erstellt ein «Pensionierungsbudget». Die Renten werden 60 bis 75 Prozent der berufichen Einkünfte betragen. Anders die Steuern, diese reduzieren sich nicht entsprechend, denn viele Abzüge, Kinderabzüge, Berufsauslagen und Beiträge in die 3. Säule fallen weg. Schenk: Beim Budgetieren ist an alles zu denken. Kann ich mir den Töff oder das Boot noch leisten? Muss ich die Wohnung wechseln, Mietkosten reduzieren? Alterswohnungen sind eine Lösung, aber oft teurer. Darum: Frühzeitig planen! Wer nicht budgetiert, riskiert, in der Altersarmut zu landen.

Lahor Jakrlin

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