Seit achtzehn Monaten leben wir im Pandemie-Modus. Doch statt dass sich zur Situation ein gesellschaftlicher Konsens bildet, nehmen Unsicherheiten und Konflikte zu. Mit einem der renommiertesten CoronaExperten suchen wir nach Klarheit.
Je länger die Pandemie andauert und mit jeder neuen Nachricht, umso mehr verliert die Öffentlichkeit den Überblick zur Corona-Situation. Wer sich im privaten und beruflichen Umfeld umhört stellt fest, dass die Meinungen und das Wissen, wo die Schweiz epidemiologisch nun genau stehe, weit auseinander gehen. Ein scharfes Gesamtbild gibt es nicht. Hinzu kommt, dass in mehreren Ländern und mit unterschiedlichen Impfquoten oder Stadien der «Durchseuchung» die Normalisierung wieder eingeführt wurde oder gerade wird. Gleichzeitig startet der Bund in der Schweiz eine «Impfoffensive» mit Impfbussen, Influencer-Prämien und 1700 Beraterinnen und Beratern für Hausbesuche – Massnahmen, gegen welche sich umgehend diverse Kantone, auch Bern, heftig auflehnen. Und welche Impfquote beziehungsweise wie viele Immunisierte hat die Schweiz denn konkret? Das BAG vermeldet 60 Prozent Geimpfte und setzt, um zur Normalisierung zurückzukehren, eine Quote von 80 Prozent voraus. Dabei weiss man offensichtlich nicht, wieviele Genesene, also quasi durch die Krankheit Geimpfte, es gibt. Ja nicht mal, wieviele an Corona Erkrankte es überhaupt gibt. Etwa jene Kinder und Jüngeren, die nie Symptome zeigten und auch nie getestet wurden. Wie zählt man diese vermutlich grosse Gruppe zum Total hinzu, ist man eventuell schon am Ziel, und weiss es nicht? Stochert die Politik im Nebel? Und wie gut ist der Dialog zwischen der Wissenschaft, der Politik und den Behörden? Zu diesem breiten Themenfeld unterhielten wir uns mit jenem Experten für Coronaviren, der aufgrund seiner Forschung und Erfahrung zu den renommiertesten Virologen zählt. Volker Thiel ist Professor an der Uni Bern und im Hochsicherheitslabor des Instituts für Virologie und Immunologie im Einsatz. Er ist seit Anbeginn Mitglied der wissenschaftlichen COVID-19 Task Force, aber keiner jener Wissenschaftler, die aktiv das Scheinwerferlicht suchen.
Herr Thiel, Sie arbeiten seit nahezu 30 Jahren an Coronaviren, die Pandemie aber ist kaum zwei Jahre alt.
Neben SARS-CoV-2 gibt es sehr viele weitere verschiedene Coronaviren, es handelt sich um eine Virenfamilie. Sie kommen bei vielen Tiergattungen vor, Kamelen, Schweinen, Hund, Katze, Maus bis hin zu Fledermäusen oder dem Pangolin, den Schuppentieren. Wie sich Viren weiterentwickeln oder wie sie von den Tieren an menschliche Zellen andocken, das ist ein grosses Gebiet der Forschung.
Zu den Menschen wie ist die Corona-Situation heute?
Sie ist unberechenbar. Einer der Gründe ist, dass wir Geimpfte haben, Ungeimpfte, darunter nicht nur Kinder, sondern auch ältere Menschen. Durch diese Mischung ist die epidemiologische Lage sehr schwer voraussehbar. Ironischerweise war dies im Frühstadium, als es noch keine Impfstoffe gab, leichter zu analysieren. Bei den früh Geimpften lässt der Impfschutz natürlicherweise wieder nach, die später Geimpften hingegen haben einen guten Schutz. Es ist dieses Gemenge, welches alles recht unübersichtlich macht.
Steht uns ein harter Corona-Winter bevor?
Ich tendiere zu einem Ja, aber der Umfang der Welle ist nicht genau definierbar. Zum einen schützen wir uns weniger. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns in der kalten Jahreszeit in Innenräumen aufhalten. So kann sich das Virus viel leichter verbreiten. Treffen wird es in erster Linie die Ungeimpften. Das zeigt sich schon jetzt: die meisten der Hospitalisierten sind Ungeimpfte. Gemäss Regierungsrat Pierre Alain Schnegg seien auf den Intensivstationen sogar alle 17 wegen Corona Hospitalisierten, also 100 Prozent, Ungeimpfte.
Wie hoch ist die Impfquote heute?
Zweifach geimpft sind etwa 60 Prozent. Wieviele genesen sind, weiss man nicht. In Statistiken erfasst werden nur die, die positiv getestet wurden. Klar ist aber, dass es viele gibt, die an Corona erkrankten, es aber nicht wissen und auch nie getestet wurden.
Wie stellt man fest, dass jemand «genesen» ist?
Eine Genesung kann in den ersten Monaten nach der Ansteckung via Antikörper nachgewiesen werden. Allerdings nimmt die Antikörpermenge natürlicherweise ab, was den Nachweis erschwert. Als «Genesen» zertifiziert werden kann übrigens nur, wer zuvor positiv getestet wurde.
Was ist mit Kindern, mit den Schulen?
Die grosse Mehrheit – das heisst fast alle Kinder bis 12 – ist nicht geimpft. Bei den 12 bis 16-Jährigen sind schon 30 Prozent geimpft. Was die Schulen betrifft: Im Sommer beruhigte sich die Lage, aber mit der zunehmenden Kälte werden die Infektionen in den Schulzimmern vermutlich steigen. Und die Grippe? Letzten Winter fiel sie sehr mild aus. Nach Meinung des Virologen wird sie diesen Winter kommen. Weil wir uns, wie gesagt, weniger schützen als vor einem Jahr. Wir tragen weniger Masken und versammeln uns wieder, bei Sportanlässen, in Kinos, an Konzerten, in den Büros und so weiter. Die Grippe werde besonders Jüngere und Kinder treffen. Also jene, die noch nie eine Grippe hatten und deren Immunsystem entsprechend noch nicht so robust sei.
Haben Sie persönlich Angst vor Corona?
Wenn ich in Räumen mit vielen Leuten bin, fühle ich mich ohne Maske unwohl, ja. Warum? Wir müssen uns erst wieder an diese neue Normalität gewöhnen und uns klarmachen, dass der Impfschutz sehr gut vor schwerer Erkrankung schützt.
Wie stehen Sie zu den Massnahmen zum Beispiel zu Masken?
Die Maske ist neben der Impfung die wichtigste Massnahme.
Zu den umstrittenen Schliessungen von Botanischen Gärten oder Auto-Selbstwaschanlagen während des Lock-downs?
Im Nachhinein war das sicher zweifelhaft, aber damals wusste man noch nicht so viel wie heute. Aerosol-Forscher stellten fest, dass sich Aerosole im Freien recht schnell verteilen, also anders als in Innenräumen eher ungefährlich sind.
Sind Massnahmenkritiker Spinner?
Es gibt zwei Gruppen. Eine argumentiert sauber und vernünftig, auf einer Austauschebene. Das sind meiner Meinung nach die meisten. Auch wenn ich anderer Meinung bin, muss ich es akzeptieren, falls sie sich nie werden impfen lassen. Doch dann gibt es die Extremen, die rein ideologisch argumentieren, mit denen jede Diskussion unmöglich ist.
Was sagen Sie einem Impf-Skeptiker?
Eine Infektion ist weit schlimmer, als mögliche Impfnebenwirkungen. Zudem verlaufen Erkrankungen bei Geimpften milder als bei Ungeimpften.
Sie sind Mitglied der COVID-19 Task Force, die in den letzten Monaten auch personell zu reden gab. Wie erklären sie die Austritte?
Es handelte sich immer um individuelle Entscheide. Die Mitarbeit in der Task Force ist eine grosse zeitliche Belastung, das war oft einer der Gründe. Es mag aber auch Frustrationen gegeben haben, dass die Politik nicht mehr und direkter auf die Wissenschaft hörte. Ich möchte das nicht im einzelnen kommentieren. Jetzt ist die Situation aber besser. Die Kommunikation zwischen Politik, Behörden und Wissenschaft ist intensiver und vertrauensvoller. Die Pandemie ist ja ein noch recht junges Phänomen, und für das gegenseitige Vertrauen braucht es naturgemäss auch Zeit.
Herr Thiel, auf wann erwarten Sie das Ende der Pandemie, die Rückkehr zur Normalität?
Ich gehe davon aus, dass wir wohl ab Frühjahr 2022 immer näher an die Normalität kommen. Auch weil dann viele mehr geimpft oder genesen sein werden, also eine genügend hohe Zahl der Bevölkerung die Grundimmunität haben wird. Ich empfehle allen Zögernden, sich impfen zu lassen.
jak