Seit den Wahlen in der Stadt Bern sind rund eineinhalb Jahre vergangen. Zeit für eine Zwischenbilanz. Adrian Vatter über Frauenanteile, Stapi Alec von Graffenried und die Causa Abdirahim.
Welches Zeugnis stellen Sie dem Gemeinderat rund eineinhalb Jahre nach den Wahlen aus?
Mein Eindruck ist, dass diese Kollegialbehörde grundsätzlich gut funktioniert. Sie tritt meist relativ geschlossen auf, was in einer Phase, in der der Gürtel enger geschnallt werden muss, nicht immer einfach ist. Dass es zu keinen grösseren Konflikten kommt, obwohl die Sparmassnahmen jede Direktion betreffen, erachte ich als positiv. Ohne Fauxpas ging es dann aber doch nicht, ich erinnere an die Panne beim Informatikprojekt Base 4 Kids, die Franziska Teuschers Bildungsdirektion betrifft, oder die Budget-Fehlprognose von Finanzdirektor Michael Aebersold.
Wie lautet Ihr Fazit für den Stadtrat?
Er hat zahlreiche Geschäfte beraten, darunter grössere Traktanden wie das Klima-, Kundgebungs- oder das Personalreglement. Bei ersterem wurden konstruktive Mehrheiten erreicht, trotz Widerstand von rechts wie von ganz links. Zudem hat das Stadtparlament letzten Herbst Akzente gesetzt, indem man beim Budget gewisse vorgeschlagene Kürzungen seitens des Gemeinderats wieder rückgängig machte, beispielsweise bei der Stadtgalerie. Gleichzeitig kämpft er permanent mit dem Abbau zahlreicher früherer Vorstösse.
Wie beurteilen Sie das Wirken von Stapi Alec von Graffenried?
Er hat offensichtliche Stärken, gleichzeitig aber auch Schwächen: Zu seinen Stärken zählt, dass er ein ausgezeichneter Bern-Promotor ist und sich für diese Stadt mit viel Herzblut einsetzt. Zudem denkt und agiert von Graffenried staatspolitisch, denken Sie an die Ukraine-Konferenz in Lugano. Die angedachte Fusion mit Ostermundigen fällt ebenfalls in diesen Bereich – diese war und ist ja eines seiner Vorzeigeprojekte. Geplant war jedoch, sechs Gemeinden zu fusionieren, nun ist noch eine mit dabei, und selbst hier geht es nur schleppend vorwärts. Alec von Graffenried ist ein guter Mediator, der allerdings die Leute nicht durch Enthusiasmus und Verve mitreisst. Das wäre gerade bei der angedachten Fusion nötig.
Ein Wort zur neuen Verkehrsdirektorin Marieke Kruit: Von bürgerlicher Seite ist zu hören, sie zeige sich offener für abweichende Meinungen und handle weniger ideologisch als Vorgängerin Ursula Wyss.
Diesen positiven Eindruck teile ich. Kommunikation und die Bereitschaft zum Kompromiss sind besser geworden. Das änderst nichts daran, dass sie den rot-grünen Kurs in der Verkehrspolitik vollumfänglich umsetzen wird. Rückenwind erhielt Kruit gleich zu Beginn ihrer Amtszeit durch das Ja in der Abstimmung zum neuen Hirschengraben. Jüngst hörte man weniger von ihr, was aber kein negatives Zeichen sein muss.
Bitte ein kurzer Kommentar zum Stadtratspräsidenten Manuel C. Widmer.
Er hat definitiv einen anderen Stil als sein Vorgänger Kurt Rüegsegger von der SVP. Widmer setzte sich zum Ziel, einen effizienteren Ratsbetrieb hinzukriegen. Dafür engagiert er sich: Er drückt aufs Gaspedal, schnürt Vorlagenpäckli. Teilweise hat er damit Erfolg, die hängigen Vorlagen haben sich von 500 auf rund 400 reduziert. Manche Stadträte fühlen sich deswegen jedoch etwas desavouiert, da ihre jeweiligen Vorstösse oft nur noch in einem Gesamtpaket diskutiert werden.
Inwiefern merkt man dem Berner Politbetrieb an, dass die Stadtratsmitglieder zu 70 Prozent weiblich sind?
Auf der inhaltlichen Seite, etwa bei der Diskussion über anstehende Infrastrukturprojekte, ist das weniger sichtbar, da ist die Fraktionsgeschlossenheit generell wichtiger als das Geschlecht. Andererseits wurden durchaus einige Ausrufezeichen gesetzt, die bei einer Männermehrheit wohl kaum an die Hand genommen worden wären. Nehmen wir «Text me when you get home», die Präventionskampagne gegen sexuelle Belästigung. Dieses Anliegen fand übrigens parteiübergreifend Zustimmung. Familienergänzende Betreuungsangebote, Stellvertretungsregeln und Unisex-Toiletten wurden ebenso forciert. Was vor 15 Jahren zudem kaum der Fall war, ist, wie oft nun junge Frauen in den Fraktionen Führungsfunktionen innehaben.
Hat die Causa Mohamed Abdirahim, der seinen Lebenslauf gefälscht hatte, der SP nachhaltig geschadet oder handelte es sich eher um einen kurzen Aufreger?
Eher Zweiteres. Es handelte sich um einen individuellen Fehler und nicht um den Fehler einer ganzen Partei. Ausserdem haben sowohl Abdirahim wie die SP danach rasch und adäquat reagiert, selbst die anderen Parteien gingen fair mit den Beteiligten um. Nicht zuletzt, weil sie wussten, dass das wohl auch ihnen hätte passieren können. (lächelt)
Wie fällt Ihre Bilanz der einzelnen Parteien aus?
Die FDP hat eine der offensichtlichsten Veränderungen erlebt: Sie positionierte sich mit Claudine Esseiva und Tom Berger als liberal-urbane Partei, weit weg vom Wirtschaftsfreisinn. Eine Partei, die jetzt eher mal bereit ist, eine Mittelösung mitzutragen. Die SVP wiederum betreibt eher Obstruktion statt konstruktive Opposition, kann sich medial allerdings immer sehr gut in Szene setzen.
Kommen wir zum Grünen Bündnis.
Es spielt sehr geschickt auf der Regierungs-Oppositions-Klaviatur: Man erhält häufig den Eindruck, das «GrüBü» sei Oppositionspartei: Es hat zwar eine eigene Gemeinderätin, treibt den Gemeinderat hingegen mit teils radikalen Forderungen vor sich her. Die «richtige» Oppositionspartei ist aber eigentlich die GLP, die sich bereits geschickt für die Nachfolge von Reto Nause in Stellung gebracht hat.
Die SP?
Ein grosser Dampfer. Sehr mächtig, manchmal aber auch etwas träge und in interne Flügelkämpfe verwickelt. Verkauft sich gegen aussen weniger gut als andere Parteien. Die GFL ihrerseits ist als Stapi-Partei manchmal etwas im Dilemma, da sie den Stadtpräsidenten stützen muss und als Kleinpartei weniger Profilierungsmöglichkeiten hat als etwa das Grüne Bündnis.
In dieser Woche kommt der Stadtrat nach der Sommerpause wieder zusammen. Welche Themen beschäftigen ihn in den nächsten Wochen und Monaten?
Sicherlich die zweite Lesung des Personalreglements, in dem es um verbesserte Anstellungsbedingungen der städtischen Angestellten geht. Dann folgt im Herbst die nächste Budgetdebatte: Gross ist der Handlungsspielraum des Stadtrats nicht, es geht eher darum, gewisse Dinge zurückzubuchstabieren, wie es zum Beispiel letztes Jahr beim Lorrainebad der Fall war. Hinzu kommen Themen wie Nachtragskredite für die Ukraine. Die Arbeit des Stadtrats wird weiterhin von der Krise geprägt sein.
Wagen Sie bereits eine Prognose für die Wahlen 2024?
Aus heutiger Warte werden sich gewisse Trends fortsetzen: Die Grünen wie auch die Grünliberalen dürften
weiter zulegen. Die SP hingegen scheint eher in der Defensive zu sein, im Clinch zwischen GB, GLP und GFL, und muss ihre Sitze verteidigen. Die GLP wird gute Karten haben, den freiwerdenden Sitz von Reto Nause zu ergattern. Bei den bürgerlichen Kräften sehe ich kaum Ausbaupotenzial. Interessant wird sein zu beobachten, ob der Strategiewechsel der FDP etwas einbringt. Die SVP dürfte wie immer auf ihre Stammwählerschaft, namentlich in Bern-West, zurückgreifen dürfen, ohne wirklich zuzulegen.
Wer darauf hofft, dass es jemand von FDP oder SVP in den Gemeinderat schafft, dürfte enttäuscht werden?
Ziemlich sicher, ja.
Yves Schott