Nichts deutet darauf hin, dass hinter der grünen, hölzernen und unscheinbaren Tür an der Aarbergergasse 19 Frauen ihren Körper verkaufen. Wer hier reingeht, will nur eines: Sex. Ein Einblick in eine andere Welt.
von Yves Schott
Es riecht etwas muffig, als ich das Treppenhaus betrete. Der Geschmack von abgestandenem Rauch liegt in der Luft. Die Wände einigermassen vergilbt, das Licht fahl, alles ein wenig zu eng gebaut, vor allem für jemanden wie mich, dem doch eine einigermassen stattliche Grösse in die Wiege gelegt wurde. Herzlich willkommen im Laufhaus an der Aarbergergasse 19 – oder einfach: ein Bordell auf vier Etagen. Ich bin unterwegs mit Remo Holzer und zwei Kollegen seines Teams. Der 36-Jährige ist Dienstgruppenleiter beim Spezialdienst der Fremdenpolizei: mittelgrosse Statur, kräftig, freundlich, aber bestimmt. Ja, genau so jemanden braucht es, um diese Art von Arbeit zu erledigen. Wir klingeln an der ersten Tür. Nach einigen Sekunden öffnet sie sich ganz langsam, eine junge Frau südostasiatischer Herkunft schaut uns etwas ängstlich an. «Keine Sorge, wir sind von der Fremdenpolizei und machen nur eine Kontrolle», erklärt einer der Begleiter, der anonym bleiben will. Die drei Männer prüfen, ob alles seine Ordnung hat: Ist jemand unangemeldet hier? Halten sich alle an die Vorschriften? Personen aus dem EU/EFTA-Raum dürfen bis zu 90 Tagen ohne Bewilligung in der Schweiz arbeiten, egal, in welcher Branche sie tätig sind.
Nacktaufnahmen, überall
Einer der Mitarbeiter der Fremdenpolizei vergleicht die Namen auf seiner Liste mit jenen auf den Pässen der anwesenden Prostituierten um sich abzusichern, ruft er von Fall zu Fall in der Zentrale an. Ausserdem müssen in jeder Wohnung Kondome, Gleitgel und Infoflyer für die Freier zur Verfügung stehen. Ist das nicht der Fall, gibt es eine Meldung an die Orts- und Gewerbepolizei, die für solche Unregelmässigkeiten verantwortlich zeichnet. Die Etablissements sind alle wahnsinnig klein. Vielleicht scheint das zwar nur so, denn praktisch alle Fenster wurden abgedunkelt. Kaum ein Lichtstrahl erhellt diese Räume. Dafür stehen Kerzen rum, Lichterketten, wenngleich keine mit klassischen roten Lämpchen. Dass draussen, obwohl schon Mitte September, die Sonne die Stadt in gleissend helles Licht taucht, merkt man kaum. Es könnte geradeso gut tiefe Nacht sein. Die Zeit spielt hier keine Rolle, wieso auch? Dieses Milieu kennt keinen geregelten Tagesgang.
«Tschüss!» Und weiter gehts
Klar geregelt wird indes der Ablauf der Kontrolle. Wichtig ist nicht zuletzt, dass sich die drei immer irgendwie im Blickfeld haben. Es kam schon vor, so sagt mir Holzer, dass die Frauen sich über sexuelle Belästigung seitens der Polizei beklagten. Oder im Gegenteil in die Offensive gingen, sich den Beamten körperlich annäherten. Doch die Männer hier sind Profis, die ihren Job mit einem klaren Fokus erledigen und vor allem auch das Umfeld des Milieus im Blick haben. Die Themen Menschenhandel, Ausbeutung und Zwangsprostitution müssen erkannt, allfällige Opfer identifiziert werden. Eine etwas unangenehme Mischung von schlechtem Parfüm und Räucherstäbchen steigt mir in die Nase. Nach einigen Minuten ist die Kontrolle beendet. Wir verabschieden uns höflich – und irgendwie seltsam normal. «Tschüss!» Dann gehts gleich weiter, nächste Etage. An jeder Tür hängen Nacktaufnahmen der Frauen, die dahinter ihre Dienste anbieten. Unsere Fotografin hält eine der Bildercollagen mit ihrer Kamera fest. Oftmals sind diese Bilder echt, manchmal aber schlicht aus zusammengeschnittenen Fotos dahingeklebt. In der nächsten Wohnung treffen wir auf drei junge Ungarinnen. Eine ist schon seit drei Jahren hier, die anderen beiden seit einem. «Dieses Jahr scheisse, keine Männer hier», gibt die Älteste von ihnen zu Protokoll. Deswegen würden sie keine Ruhepause kennen. «Eigentlich ist das für uns ein Hinweis, dass eine mögliche Ausbeutungssituation vorliegt, wenn die Frauen 24 Stunden zur Verfügung stehen», erklärt mir Holzer. «Das könnte auf Zwang und/oder Druck hinweisen.» Dieser Umstand wird registriert und dann weiter beobachtet. Tatsächlich kriegen wir an diesem Nachmittag praktisch keine Freier zu Gesicht. Ganz generell gilt: Die Prostituierten müssen niemanden hereinlassen. Passt ihnen ein Mann nicht, können sie ihn ablehnen. Zu diesem Zweck sind im ganzen Haus Videokameras angebracht, in den einzelnen Appartements hängen Bildschirme – damit die Frauen schon im Vornhinein wissen, auf wen sie sich da möglicherweise einlassen. In den Zimmern hingegen darf nicht gefilmt werden. Tabuzone. Wer weiss schon, ob eine Dame ihren Freier sonst möglicherweise erpresst oder die Sexarbeiterinnen von Schleppern überwacht werden.
«Willst du?»
Insgesamt scheinen Probleme mit männlichen Besuchern eher die Ausnahme zu sein. Laut Holzer ist das Milieu in der Stadt Bern grundsätzlich ruhig. Hektik entsteht ab und zu lediglich bei den Kunden. «Die Freier sind teilweise nicht sehr ‹amused›, wenn wir anklopfen und sie im Zimmer noch beschäftigt sind. Falls möglich, warten wir draussen, wenn wir aber mal drin sind, sind wir drin – auch, damit keine Beweismittel verschwinden können.» Mit einer der Frauen, die auf mich ziemlich aufgeschlossen und entspannt wirkt, beginne ich ein Gespräch. Sie ist 22, nennen wir sie Anna*, und kommt aus Ungarn. Immer wieder zieht sie an ihrer Zigarette. Wieso sie hier ist? «Geld», entgegnet sie ohne Umschweife und lacht. Doch was bedeutet dieses Lachen? Scham? Resignation? Verzweiflung? Oder eine berufsbedingte Abgeklärtheit? Ich kann es nicht deuten. Ihre Familie, so behauptet sie zumindest, wisse, dass sie in der Schweiz sei und was sie hier tue. Was sie denn für Sex so verlange, möchte ich wissen. Sie lächelt wieder. «Wieso, willst du?» Frauen, Männer, Transgender Jetzt erst fällt mir an einer Wand ein Zettel auf. «Richtpreise», heisst es da. Unter «Standardservice» finden sich etwa der Quickie oder die ganze Stunde, die 300 Franken kostet. «Im Standardservice enthalten: GV in allen Stellungen, Französisch , Masturbieren, Schmusen, Küssen bei Sympathie», steht weiter. Analsex, ins Gesicht spritzen und andere Vorlieben kosten zusätzlich, für 200 Franken erhält der Kunde ein Video. Im vergangenen Jahr zählte die Fremdenpolizei in der Stadt Bern 1594 Bewilligungsmeldeverfahren von Menschen, die sich für Sex verkaufen wollten. «Hauptsächlich Frauen, aber auch einige Männer und Transgender», erklärt Remo Holzer. Wer sich für das Meldeverfahren entscheidet, bleibt häufig nur die erlaubten 90 Tage und zieht dann weiter. Was damit zu tun hat, dass viele Freier nicht immer nur von der gleichen Frau bedient werden wollen. Die meisten Frauen wählen diese Variante. Anders beim Bewilligungsverfahren: Hier erhält die Bewerberin, vorausgesetzt sie stammt aus einem der EU/EFTA-Staaten, am Schluss einen Aufenthaltsausweis der Kategorie B und darf, im Unterschied zum Meldeverfahren, an verschiedenen Orten arbeiten. Dazu muss sich die Person allerdings bei der AHV anmelden und eine Krankenkassen-Offerte nachweisen können. Der Kontrollgang ist zu Ende. Gemeinsames Debriefing. Alles lief gut, Beanstandungen gab es keine. Die jüngste der Frauen war 20 Jahre alt, erlaubt ist Prostitution ab 18. So reibungslos läuft es gemäss Holzer nicht immer. «Wir treffen auch Situationen an, wo wir unmittelbar reagieren müssen. Zum Beispiel bei Verdacht auf Widerhandlungen oder Ausbeutungssituationen. Dazu gehören in der Folge weitere Abklärungen auf unserer Dienststelle. Bei Verdacht auf Ausbeutung oder Zwang erfolgt die sofortige Weiterleitung an eine zuständige und spezialisierte Opferberatungsstelle. Diese Abklärungen sind sehr aufwändig und zeitintensiv.» Eine knappe Stunde hat der Kontrollgang im Laufhaus gedauert. Ich bin froh, dass ich wieder draussen bin, zurück im «normalen» Leben, an der frischen Luft. Irgendwie fühle ich mich ein bisschen schmutzig, obwohl es hygienetechnisch nichts zu beanstanden gab. Ich denke an die Frauen zurück, die ich getroffen habe: jung, viele sehr hübsch, praktisch alle aus dem Ausland. Sie sitzen da, plaudern, rauchen, trinken etwas. Bis jemand vorbeikommt: der schnelle Sex, ein bisschen schmusen und Smalltalk vielleicht noch. Und das jeden Tag, rund um die Uhr. Wochen-, monate-, vielleicht jahrelang. Trotzdem sind die meisten freundlich, offen, wirken lebensfroh – ob sie es tatsächlich sind? Ich zweifle. Sie träumen vom sozialen Aufstieg durch den Reichtum, den sie sich in der Fremde erworben haben. Dafür verkaufen die Frauen nicht nur ihren Körper, sondern ein wenig auch ihre Seele. Hauptsache weg. Das grosse Geld. Das grosse Elend. *Name der Redaktion bekannt